Gegen
den gerade verurteilten Demjanjuk wird nun auch wegen Verbrechen
in Flossenbürg ermittelt
Berlin - Den Ort des Schreckens hat Jack Terry nie ganz
verlassen. Als er 15 Jahre alt war, befreiten ihn US-Soldaten
aus dem nationalsozialistischen Konzentrationslager Flossenbürg.
Er ist dem Lager entkommen, aber die Erlebnisse begleiten
ihn. Jetzt ist der 81-Jährige gefragt worden, ob er
in einem möglichen Verfahren gegen zwei frühere
Wachmänner aussagen würde. Dazu ist er gern bereit. „Ich
denke, dass Gerechtigkeit lange überfällig ist“,
sagte Terry dem Tagesspiegel. „So lange noch ein Täter
oder Helfer lebt, sollte der Gerechtigkeit Genüge getan
werden.“
Was in Flossenbürg geschehen ist, beschäftigt
die Staatsanwälte.
Gegen den früheren Wachmann John Demjanjuk, der im
Mai wegen der Beteiligung am Massenmord an Juden in Sobibor
zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, läuft bei
der Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz ein Ermittlungsverfahren
wegen Beihilfe zum Mord in Flossenbürg. „Es gibt
einen Anfangsverdacht aufgrund einer Anzeige“, sagt
Oberstaatsanwalt Gerhard Heindl.
Die Strafanzeige haben zwei Schlüsselfiguren des Münchner
Demjanjuk-Verfahrens erstattet: Thomas Walther hatte als
Ermittlungsrichter bei der Zentralstelle zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg den Fall
Demjanjuk überhaupt erst entdeckt. Ohne ihn hätte
es den Prozess nie gegeben. Walthers Ermittlungen waren ein
Bruch mit der bisherigen Arbeitsweise der Zentralstelle:
Dort hatte man nach konkret nachweisbaren Morden gesucht,
aber nie den Tatbestand der Beihilfe auf Wachleute in Vernichtungslagern
angewandt.
Der zweite Mann hinter der Anzeige, der Strafrechtsprofessor
Cornelius Nestler, war Organisator der Nebenklage im Demjanjuk-Prozess.
In seinem Schlussplädoyer warf Nestler der Zentralstelle
einen „juristischen Blindflug“ vor, weil sie
es versäumt hatte, gegen Wachmänner zu ermitteln.
Walther und Nestler wollen vermeiden, dass das Urteil gegen
Demjanjuk folgenlos bleibt – und sie gehen noch einen
Schritt weiter: „Das Prinzip der ,funktionalen Beihilfe’ lässt
sich nicht nur auf Vernichtungslager, sondern auch auf Konzentrationslager
anwenden“, sagt Walther.
Sie erstatteten Anzeige gegen Demjanjuk und gegen Alex N.,
der eine ähnliche Biografie hat wie Demjanjuk und gegen
ihn als Zeuge aussagte: Beide gerieten als Soldaten der Roten
Armee in deutsche Gefangenschaft und wurden von der SS zur
Ausbildung im Lager Trawniki angeworben. Von Oktober 1943
bis Dezember 1944 waren sie Wachmänner in Flossenbürg.
Walther recherchierte mit Unterstützung der Gedenkstätte
Flossenbürg, dass im Hauptlager in dieser Zeit 4974
Menschen ums Leben kamen – sie wurden zu Tode geprügelt,
erschossen oder erhängt, sie erfroren, verhungerten
oder starben an Erschöpfung. Der Tod war allgegenwärtig
im Lager. Morgens stiegen die Häftlinge über die
Leichen derer, die in der Nacht gestorben waren. Den Wachleuten
gingen die Häftlinge aus dem Weg, wo es nur ging. „Es
war schon gefährlich, sie anzusehen“, sagt Terry.
Die ukrainischen Wachmänner seien brutaler gewesen als
die deutschen SS-Männer. „Sie wollten beweisen,
wie sorgfältig sie ihre Pflicht erfüllten“,
sagt Terry. „Sie bewachten uns nicht einfach nur. Sie
demütigten uns, sie misshandelten uns, sie schlugen
uns mit ihren Gewehrkolben. Wenn wir marschierten, brachten
sie uns zu Fall und prügelten auf uns ein, wenn wir
am Boden lagen.“ Die Zustände im Lager „waren
insgesamt so gestaltet, dass die Opfer einer systematischen
Methode der Vernichtung ausgesetzt wurden“, schreiben
Walther und Nestler in der Strafanzeige.
Gegen N. ermittelte die Staatsanwaltschaft München
bereits wegen seiner Tätigkeit als Wachmann in Treblinka.
Auf der vom Simon-Wiesenthal-Center erstellten Liste der
meistgesuchten NS-Verbrecher steht N. auf Platz fünf.
Nur zwei Wochen nach der Strafanzeige stellten die Münchner
Staatsanwälte die Ermittlungen ein – sowohl die
zu Treblinka als auch die zu Flossenbürg, die kurzerhand
mit der anderen Ermittlung zusammengefasst worden war. Efraim
Zuroff, Direktor des Wiesenthal- Centers, zeigte sich von
der Entscheidung enttäuscht: „Ich hätte gehofft,
dass sie weiter ermitteln“, sagte er dem Tagesspiegel.
Da in Treblinka auch ein Arbeitslager gewesen sei, könne
man nicht sagen, dass jeder Wachmann an der Vernichtung beteiligt
war, sagte Staatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch. „In
dem Fall müssten wir ihm individuell eine Tat nachweisen,
doch dafür fehlten die Beweise.“ Mit dieser Begründung
stellten die Staatsanwälte auch die Ermittlungen zu
Flossenbürg ein. Nestler und Walther wollen es darauf
nicht beruhen lassen. Sie haben der Einstellung widersprochen
und argumentieren, dass in Flossenbürg zwar nicht alle,
aber doch eine große Zahl von Gefangenen getötet
werden sollte. Flossenbürg sei ein „Ort des Massensterbens“ gewesen,
betont auch der Leiter der Gedenkstätte, Jörg Skriebeleit.
Die beiden Juristen fürchten, dass eine Nichtverfolgung
der Taten ein negatives Signal senden könnte: Die Behauptung,
KZ-Wachmänner könnten nicht wegen Beihilfe verfolgt
werden, stelle „die seit 2008 positive Entwicklung
in Zusammenhang mit der Verfolgung von NS-Verbrechen erneut
infrage“.
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