Wiesenthal-Zentrum
setzt Belohnung für Hinweise auf NS-Verbrecher aus /
Verstärkte Suche nach Demjanjuk-Urteil.
Berlin - Das Simon-Wiesenthal-Zentrum macht einen neuen Anlauf, um NS-Verbrecher
in Deutschland aufzuspüren. „Wir werden eine Belohnung für
Hinweise auf Personen aussetzen, die in den Vernichtungslagern oder in
den Einsatzgruppen gedient haben“, sagte der Direktor des Zentrums
in Israel, Efraim Zuroff, dem Tagesspiegel. Einzelheiten der „Operation
Letzte Chance 2 “ will er an diesem Mittwoch in Berlin vorstellen.
Auslöser für die neuen Bemühungen der Nichtregierungsorganisation,
die nach eigenen Angaben seit 1986 geholfen hat, weltweit
fast 3000 NS-Verbrecher aufzuspüren, war das Urteil
gegen den früheren SS-Wachmann John Demjanjuk.
Er war im Mai vom Landgericht München wegen Beihilfe
zum Mord an mindestens 28 060 Juden in Sobibor zu fünf
Jahren Haft verurteilt worden. Die Revision vor dem Bundesgerichtshof
steht noch aus. Es war das erste Mal in der deutschen Rechtsgeschichte,
dass ein ausländischer Wachmann, der in einem Vernichtungslager
Dienst getan hatte, wegen Beihilfe angeklagt und verurteilt
wurde.
„Das Demjanjuk-Urteil eröffnet uns Möglichkeiten,
von denen wir nicht einmal geträumt haben“, sagte
Zuroff. Vor dem Schuldspruch wurden jahrzehntelang nur Fälle
von NS-Verbrechen vor Gericht gebracht, in denen dem Beschuldigten
eine konkrete Tat nachgewiesen werden konnte. „Früher
fanden wir Menschen, die in Einheiten gedient hatten, von
denen Kriegsverbrechen begangen worden waren, und es war
klar, dass diese Leute beteiligt waren.“ Doch einen
einzelnen Mord konnte das Zentrum ihnen nicht nachweisen. „Sie
entgingen der Strafverfolgung, und wir konnten nichts dagegen
tun.“ Jetzt gebe es eine Chance, Personen vor Gericht
zu stellen, „die Tag für Tag Juden ermordet oder
dabei geholfen haben“. Wer Hinweise auf die Täter
hat, solle sich an das Wiesenthal-Zentrum wenden. „Uns
läuft die Zeit davon“, sagte Zuroff. „Bald
wird es nicht mehr möglich sein, jemanden zur Verantwortung
zu ziehen.“ In einer ähnlichen Aktion hatte das
Zentrum bereits im Jahr 2005 Belohnungen ausgeschrieben und
Hinweise auf 127 Verdächtige erhalten. Sechs Fälle
wurden den Staatsanwälten übergeben. Neu ist nun
die gezielte Suche nach Wachpersonal.
Auch deutsche Justizbehörden fahnden nach Fällen,
die mit dem Demjanjuks vergleichbar sind. Die Zentralstelle
zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hat
nach dem Urteil begonnen, alte Fälle zu prüfen,
die in früheren Jahrzehnten eingestellt worden waren,
weil sie angesichts der damaligen Praxis als nicht justiziabel
schienen. Die Ermittler suchen ebenfalls nach ehemaligen
Wachleuten aus Vernichtungslagern und Angehörigen der
Einsatzgruppen, also Sondereinheiten, die Massaker an Zivilisten
verübten. Allerdings sucht die Zentralstelle nach Angaben
ihres Leiters Kurt Schrimm nur nach nicht deutschem Wachpersonal.
Er gehe davon aus, dass die deutschen Täter bereits
verfolgt worden. Über Zuroffs Projekt sagt Schrimm,
er sei „für jeden Hinweis dankbar“. Allerdings
glaubt er nicht, dass die Suche nach den NS-Tätern dadurch
entscheidend vorangebracht wird: „Den Versuch ist es
wert, aber die Erfolgsaussichten sind nicht sehr hoch.“ Zugleich
dämpft Schrimm die Erwartungen an die Recherchen seiner
Behörde: „Aussichtsreich ist das nicht, aber trotzdem
machen wir es.“ Mitte 2012 soll die Ermittlung der
für eine Strafverfolgung infrage kommenden Fälle
abgeschlossen sein. Doch damit ist es nicht getan: „Uns
gehen die Beweismittel aus, weil es kaum noch Zeugen gibt“,
sagt Schrimm. Bei der Suche nach Zeugen könne das Wiesenthal-Zentrum
möglicherweise helfen.
Kritikern geht der neue Ermittlungsansatz nicht weit genug.
So fordern die Juristen Thomas Walther und Cornelius Nestler,
auf der Grundlage des Demjanjuk-Urteils nicht nur Wachmänner
aus Vernichtungslagern, sondern auch aus Konzentrationslagern
vor Gericht zu stellen. Die Juristen haben wegen Beihilfe
zum Mord in Flossenbürg Anzeigen gegen Demjanjuk und
den Wachmann Alex N. erstattet, die Staatsanwaltschaften
in München und Weiden sowie Bayerns Landeskriminalamt
ermitteln. Walther, der bis zur Pensionierung in Ludwigsburg
gearbeitet und dort die Demjanjuk-Ermittlungen durchgesetzt
und geleitet hatte, will den Eindruck vermeiden, es ginge
nur um ausländische Helfer der SS. „Wir müssen
auch die noch lebenden deutschen Wachleute vor Gericht stellen“,
fordert er. Deshalb hat er nun eine Liste mit mehr als 300
Namen von Flossenbürg-Wachleuten – die meisten
davon deutsche – an die Staatsanwaltschaften München
und Weiden geschickt und Ermittlungen beantragt. tagesspiegel.de
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