Weil
sie einen verurteilten NS-Verbrecher in seinem Altersheim
filmten, stehen zwei Reporter vor Gericht. Ihnen droht eine
Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr.
Abgesehen von der Verleihung des Ordens wider den tierischen
Ernst – alljährlich zur Karnevalszeit – und
des Karlspreises für Verdienste um die europäische
Einigung – immer an Christi Himmelfahrt – macht
die Stadt Aachen nur selten von sich reden. Die westlichste
Kommune Deutschlands, im Grenzgebiet zu den Niederlanden
und Belgien, führt ein eher beschauliches Dasein jenseits
der Schlagzeilen.
Heinrich Boere
Foto: REUTERS Der verurteilte Heinrich Boere pocht auf seine Rechte
Vor Kurzem allerdings wurde durch einen Bericht des Landesamtes
für Verfassungsschutz bekannt, dass in Aachen seit zehn
Jahren eine der rührigsten Neonazi-Gruppen der Bundesrepublik
aktiv ist, die Kameradschaft Aachener Land (KAL). Worauf
der Rat der Stadt erschrocken reagierte und eine Resolution
verabschiedete, in der ein Verbot der KAL gefordert wurde.
"Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs"
Nun droht dem guten Ruf der Stadt neues Ungemach. Am Donnerstag
beginnt vor dem zuständigen Amtsgericht in Eschweiler
der Prozess gegen zwei Reporter des niederländischen
Fernsehens, Jelle Visser und Jan Ponsen.
Sie sollen vor anderthalb Jahren einen Greis in einem Altersheim
in Eschweiler besucht und dabei heimlich gefilmt haben. Was
sich nach einer Episode aus der Reihe „Vorsicht Kamera“ anhört,
kann mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr (beziehungsweise
Geldstrafe) geahndet werden.
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Die „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs
durch Bildaufnahmen“ nach Paragraf 201a des Strafgesetzbuches
ist mitnichten eine Petitesse, auch wenn die Angeklagten
behaupten, in Wahrnehmung ihrer beruflichen Pflichten und
des öffentlichen Interesses gehandelt zu haben.
Was den Fall zudem zu einem grenzüberschreitenden Politikum
macht, ist die Tatsache, dass es sich bei dem „Opfer“ der
journalistischen Übergriffs um einen dreifachen, rechtskräftig
verurteilten Mörder handelt: Heinrich Boere, der bis
Ende vergangenen Jahres auf freiem Fuß war.
Dem SS-Sonderkommando "Feldmeijer" zugeteilt
Boere, 1921 in Eschweiler als Sohn eines holländischen
Vaters und einer deutschen Mutter geboren, ist in den Niederlanden
groß geworden. 1940 meldete er sich zur Waffen-SS und
wurde 1942 dem SS-Sonderkommando „Feldmeijer“ zugeteilt,
das im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen „Todesurteile“ im
besetzten Holland vollstreckte.
Nach Kriegsende wurde Boere von einem holländischen
Sondergericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt, das Urteil
später in „lebenslänglich“ umgewandelt.
Aber da hatte sich Boere schon nach Deutschland abgesetzt
in seine Geburtsstadt, wo er mehr als 30 Jahre unbehelligt
unter seinem richtigen Namen leben und als Bergmann arbeiten
konnte.
Erst Anfang der 80er-Jahre stellten die Holländer einen
Auslieferungsantrag, den die deutsche Justiz mit der Begründung
ablehnte, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass
Boere durch den Eintritt in die Waffen-SS die deutsche Staatsbürgerschaft
erworben habe.
Auch wurde ein Ermittlungsverfahren eingestellt, weil es
sich bei den zur Last gelegten Taten nach Ansicht der zuständigen
Zentralstelle für die Ermittlung von NS-Verbrechen um
völkerrechtlich zulässige „Repressalien“ gehandelt
hätte.
Dann dauerte es noch einmal mehr als 20 Jahre, bis das Verfahren
2007 wieder aufgenommen wurde.
Da war Boere bereits ein alter Mann. Seine Anwälte
machten, wie in solchen Fällen üblich, geltend,
er sei aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht verhandlungsfähig,
kamen mit diesem Argument aber nicht durch. Im März
2010 wurde Boere vom Landgericht Aachen zu lebenslanger Haft
verurteilt.
Gutachter stellte "prinzipielle haftfähig" fest
Er bestritt nicht, 1944 drei Holländer eigenhändig
erschossen zu haben, berief sich aber auf einen „Befehlsnotstand“ und
darauf, im guten Glauben gehandelt zu haben. Im Dezember
2011 trat Boere die Strafe an, nachdem ein Gutachter festgestellt
hatte, dass er „prinzipiell haftfähig“ wäre.
Nach Angaben der Aachener Staatsanwaltschaft sitzt er freilich
nicht ein, sondern wird auf der Krankenstation einer Justizvollzugsanstalt ärztlich
betreut.
Der Fall Boere wäre ein schönes Beispiel für
das späte Erwachen der Justiz, die sich lange durch
energische Zurückhaltung ausgezeichnet hat. Er wäre
auch ein Anlass darüber nachzudenken, ob man einen Täter
66 Jahre nach der Tat überhaupt noch bestrafen kann.
Ob es sinnvoll ist, einen 90-Jährigen „lebenslänglich“ wegzusperren,
bei dem das Risiko, rückfällig zu werden, bei null
liegt.
Man könnte auch fragen, ob nicht eher die Justiz wegen
Verschleppung vor Gericht gehört – zumindest das
der öffentlichen Meinung.
In die Privatsphäre eines Mörders eingedrungen
Aber alle diese Fragen müssen hinten anstehen, denn
es geht darum, zwei Journalisten zu belangen, die in die
Privatsphäre eines Mörders eingedrungen sind – nachdem
er verurteilt, aber noch bevor das Urteil rechtskräftig
wurde. Nun ist es die Staatsanwaltschaft, die sich ihrerseits
auf eine Art Befehlsnotstand, das geltende Legalitätsprinzip,
beruft.
Wenn mutmaßliche Straftaten zur Anzeige gebracht würden,
dann müsse eben ermittelt und gegebenenfalls angeklagt
werden. Alles Übrige sei Sache des Gerichts.
Auf der anderen Seite der Grenze hat der Fall erhebliches
Aufsehen erregt. Die Holländer, deren Langzeitgedächtnis
in Deutschland gern unterschätzt wird, haben nicht vergessen,
wie viel Zeit sich die deutsche Justiz im Fall Boere genommen
hat und mit was für einem Eifer sie nun hinter zwei
Journalisten her ist, die sie nicht einmal zwingen kann,
vor Gericht zu erscheinen.
Theoretisch könnten sie, wie Boere 1949 in Holland,
in Abwesenheit verurteilt werden. Die Folgen wären an
Peinlichkeit nicht zu übertreffen: Würde die deutsche
Justiz, im Falle einer Verurteilung, einen Auslieferungsantrag
stellen? Oder sich damit zufrieden geben, das Urteil mithilfe
eines Gerichtsvollziehers zustellen zu lassen?
Jelle Visser und Jan Ponsen haben angekündigt, dass
sie zum Termin erscheinen werden. In Begleitung holländischer
Journalisten, die daheim keine Gardinen vor den Fenstern
und deswegen einen anderen Begriff von „Privatsphäre“ haben.
Der Fall Heinrich Boere ist noch nicht abgeschlossen.
welt.de
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