Publiziert am 17.03.2012 orf.at
An 16 Massentötungen beteiligt

Der wegen Beihilfe zum Mord an Tausenden Juden verurteilte ehemalige KZ-Wärter John Demjanjuk ist tot. Der Kriegsverbrecher sei am Samstag im Alter von 91 Jahren in einem Pflegeheim im Landkreis Rosenheim gestorben, berichtete der Bayerische Rundfunk. Das Polizeipräsidium Oberbayern Süd bestätigte den Bericht.

Demjanjuk war im Mai 2011 in München der Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Juden im Vernichtungslager Sobibor schuldig gesprochen und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der gebürtige Ukrainer kam nach dem Urteil auf freien Fuß. Das Gericht begründete die Entscheidung mit dem hohen Alter des Angeklagten und der Tatsache, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig sei. Auch aufgrund der Staatenlosigkeit des gebürtigen Ukrainers bestehe keine Fluchtgefahr mehr, so das Gericht damals.
2009 aus USA nach Deutschland überstellt

Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft war er in dem Altenheim in der oberbayerischen Feriengemeinde untergekommen. Nach Angaben der Polizei in Rosenheim leitete die Staatsanwaltschaft Traunstein jetzt das übliche Todesermittlungsverfahren ein. Demjanjuk war 2009 aus den USA nach Deutschland überstellt worden.

Demjanjuk war als Kriegsgefangener im Vernichtungslager Sobibor an 16 Massentötungen beteiligt, urteilte das Gericht nach eineinhalb Jahren Prozess. Zwar konnte Demjanjuk keine konkrete Tat zugeschrieben werden, das Gericht schloss sich jedoch der Argumentation der Anklage an: Da das Lager Sobibor allein der planmäßigen Ermordung von Menschen diente, habe sich jeder mitschuldig gemacht, der dort Dienst tat. Ein Dutzend Holocaust-Überlebende und Angehörige von Opfern aus den Niederlanden nahmen als Nebenkläger an der Urteilsverkündung teil.
Auf Schlusswort verzichtet

Demjanjuk nahm das Urteil am 93. Verhandlungstag zunächst ohne jede Regung auf. Der gebürtige Ukrainer, der das Verfahren von einem Rollbett neben der Richterbank mit einer Sonnenbrille über den Augen verfolgte, hatte in dem fast eineinhalbjährigen Prozess geschwiegen.

Der Angeklagte hatte auf das letzte Wort verzichtet. „Nein“, sagte er nur auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob er ein Schlusswort sprechen wolle. Die Staatsanwaltschaft hatte sechs Jahre Haft verlangt. Die Verteidigung wollte einen Freispruch und kündigte bei einer Verurteilung an, in die nächste Instanz zu gehen. Der Bundesgerichtshof werde dieses Urteil „ziemlich sicher aufheben“. Es werde nicht der Logik des Landgerichts folgen und einen konkreten Beweis verlangen.

Nach seinem Plädoyer übergab Anwalt Ulrich Busch dem Vorsitzenden Richter Alt eine dicke Mappe mit 32 neuen Anträgen. Alt fragte: „Sind das eigentlich die letzten?“ Vor den Plädoyers hatte Busch binnen weniger Tage mehr als 400 Anträge gestellt. Die Mehrzahl lehnte das Gericht ab.
Anwalt: „Sündenbock für Deutsche“

Der gebürtige Ukrainer sei ein Sündenbock, der für die Verbrechen der Deutschen büßen solle, sagte Busch zum Abschluss seines fünftägigen Plädoyers. Demjanjuk sei 40 Jahre von der Justiz verfolgt worden, nun müsse von dem „Verfolgungsopfer“ abgelassen werden, sagte Busch: „Lassen Sie John Demjanjuk im Kreise seiner Familie in Ruhe sterben.“ Wegen Demjanjuks Gesundheitszustand waren mehrere Verhandlungstage geplatzt. Der Haftbefehl müsse aufgehoben werden und Demjanjuk Haftentschädigung bekommen, forderte Busch.
Wiesenthal-Zentrum empört

Das israelische Wiesenthal-Zentrum reagierte mit großer Empörung auf die Freilassung Demjanjuks. „Er gehört ins Gefängnis“, sagte der Leiter der Jerusalemer Einrichtung, Efraim Zuroff, der Deutschen Presse-Agentur am Donnerstag. „Das ist eine ganz fürchterliche Entscheidung“, kommentierte Zuroff die Aufhebung des Haftbefehls durch das Landgericht München II. „Sein Alter hätte nicht berücksichtigt werden dürfen.“

Der Leiter des Wiesenthal-Zentrums berichtete von einer Achterbahnfahrt seiner Gefühle. Zuroff begrüßte anfangs die Entscheidung des Gerichts, das Demjanjuk zu fünf Jahren Haft verurteilt hatte. Er sprach unmittelbar nach dem Urteil von einer sehr starken Botschaft, dass die Täter auch viele Jahre nach den Verbrechen des Holocaust noch für ihre Vergehen belangt werden können. Danach räumte er ein: „Am Anfang war ich begeistert, jetzt bin ich sehr enttäuscht.“
Wiesenthal-Zentrum hofft auf weitere Prozesse

Der Tod des NS-Kriegsverbrechers John Demjanjuk öffnet nach Ansicht des Wiesenthal-Zentrums den Weg zur Strafverfolgung weiterer KZ-Wärter. Mit Demjanjuks Tod werde dessen Berufung gegen seine Verurteilung hinfällig und das Urteil gegen ihn rechtsgültig, sagte Zuroff am Samstag der Nachrichtenagentur AFP. Damit sei es erstmals möglich, gegen Hunderte ehemalige KZ-Wärter und -Folterer vorzugehen, ohne ihnen zuvor ein bestimmtes Verbrechen nachweisen zu müssen. Zuroff bedauerte zugleich, dass Demjanjuk „im Bett eines Pflegeheims gestorben ist und nicht in einer Gefängniszelle“.

orf.at