Ludwigsburg/Rio
de Janeiro – Es ist die Jagd nach den letzten untergetauchten
Nazi-Schergen. 67 Jahre nach Kriegsende durchforsten deutsche
Staatsanwälte und Kriminalkommissare Archive in Brasilien
und Chile auf Hinweise nach geflohenen NS-Verbrechern.
„In Rio de Janeiro soll es Geheimdienstakten zu Nazi-Tätern
geben, die Ende der 40er-Jahre nach Brasilien einreisen wollten“,
sagt Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm (62), Leiter der „Zentralstelle
zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ in Ludwigsburg. „Der
Tipp stammt von einer Historikerin aus Brasilien. Diese Akten
sind die heißeste Spur seit Jahren“, sagt Schrimm.?
Und Mord verjährt nie!
„Archivo Nacional“ in Rio de Janeiro. Hier werden
Einwanderungsakten aufbewahrt. 20 000 Deutsche siedelten
zwischen 1945 und 1959 nach Brasilien um. Einige unter falschem
Namen und mit einer dunklen Vergangenheit. Oberstaatsanwalt
Schrimm und sein Kollege Hauptkommissar Uwe Steinz (52) recherchieren
hier direkt vor Ort. „Wir notieren uns Namen und Daten
von deutschen Einwanderern. Zu Hause prüfen wir, ob
darunter auch NS-Täter sind“, erklärt Schrimm. „Das
ist ein Puzzlespiel aus vielen Mosaiksteinen.“
Seit dem Jahr 2000 ist Schrimm Leiter der „Zentralstelle
zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“.
Schon vorher jagte er in anderen Funktionen als Staatsanwalt
Nazi-Schergen. Sein größter Erfolg: Die Verurteilung
des SS-Oberscharführers Josef Schwammberger 1992 zu
lebenslanger Haft wegen Mordes und Beihilfe zum Mord in 650
Fällen. Jahrelang hatte Schrimm an dem Fall gearbeitet.
Schwammberger hatte sich in Argentinien versteckt.?
„Früher haben wir ermittelt, wenn wir Hinweise
zu möglichen NS-Verbrechern bekamen. Doch die werden
immer seltener. Deswegen suchen wir jetzt selbst in Archiven
nach Spuren“, erklärt der leitende Oberstaatsanwalt.?
„Arquivo Historico“ in Rio de Janeiro. Hinter
der schweren, dunklen Holztür des streng gesicherten
Archivs lagern die verschiedensten Akten. Findbücher,
mit denen die Fahnder gezielt nach Unterlagen suchen können,
gibt es nicht. Nur zerfledderte Karteikarten. Schrimm: „Wenn
wir diese Geheimdienstakten aus den 40er-Jahren finden, wäre
das für uns wie Weihnachten und Ostern an einem Tag.
Leider hatten wir bislang noch keinen Erfolg.“?
Im April fliegt Hauptkommissar Uwe Steinz mit zwei Kolleginnen
wieder nach Rio de Janeiro. Der Ermittler zu BILD.de: „Wir
sind 18 Tage im Archivo Nacional und durchforsten Tausende
Karteikarten über Einwanderungen und Einbürgerungen
aus der Nachkriegszeit."
Inzwischen haben die Fahnder viele Erfahrungen gesammelt,
woran man in Südamerika untergetauchte NS-Verbrecher
erkennt. Uwe Steinz: „Es gibt ein Raster, nach dem
wir suchen. Kriegsverbrecher reisten fast immer allein ein.
Erst später holten sie ihre Familie nach. Und die allermeisten
kamen unter falscher Identität mit einem Pass des Internationalen
Roten Kreuzes.“
Über die so genannte „Rattenlinie“ flohen über
Italien bis zu 800 höhere NS-Funktionäre allein nach Argentinien.
Einige Hundert tauchten in Brasilien, Chile und Paraguay unter.
Auch in Chile recherchieren die deutschen Ermittler. „In Einwanderungsakten
suchen wir nach archivierten Pässen des internationalen Roten Kreuzes“,
sagt Hauptkommissar Uwe Steinz. „Mit diesen Ausweisen sind NS-Verbrecher
wie Adolf Eichmann unter falschen Namen nach Südamerika geflüchtet.
Bei meiner letzten Ermittlung in Chile bin ich auf einen SS-Angehörigen
gestoßen, der möglicherweise mit NS-Verbrechen in Verbindung
steht.“
Es ist ein Kampf gegen die Zeit und Aktenberge. Mit jedem Tag wird die
Wahrscheinlichkeit geringer, einen Kriegsverbrecher noch lebend aufzuspüren.
Kurt Schrimm: „Auch wenn die Chancen nicht sehr groß sind.
Eins dürfen wir uns nie vorwerfen lassen: Etwas unversucht gelassen
zu haben.“ bild.de
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