Der
Massenmord im tschechischen Dorf Lidice vor 70 Jahren gehört
zu den bekanntesten Verbrechen des Zweiten Weltkrieges. Neue
Forschungen zeigen, dass Ordnungspolizisten die Haupttäter
waren.
Die Mörder kamen in der Dunkelheit. Die Sonne war schon
fast zwei Stunden untergegangen über dem Dorf Lidice
westlich von Prag, als gegen 22 Uhr knapp ein Dutzend schwere
Lastwagen eintrafen. Mehr als 200 Mitglieder der Ordnungspolizei,
zum größten Teil aus Halle an der Saale, saßen
ab und umstellten den Ort, unterstützt von einer Kompanie
Wehrmachtssoldaten und tschechischen Kollaborateuren.
Den Polizeireservist Willy C., ebenfalls aus Halle, beschlich
ein böses Gefühl: "Ich hatte das Empfinden,
dass hier etwas Unrechtes vorgehen sollte." Also bat
er seinen Kompanie-Chef, einen gewissen Konrad Weber, ihn
zum Absperrdienst einzuteilen. Als Grund gab er an, "dass
ich stark kurzsichtig bin". Sein Vorgesetzter bewies
Verständnis: Willy C. schob in den kommenden Stunden
Wachdienst am Rand von Lidice.
So bekam er aus gewisser Distanz mit, was im Kern des Dorfes
mit seinen nur 93 Häusern geschah. Seine Kameraden in
Polizeiuniform nämlich trieben, unter dem Kommando einiger
SS- und Gestapo-Offiziere, die etwa 500 Bewohner Lidices
zusammen. Knapp 200 Frauen und etwa halb so viele Kinder
wurden mit Bussen in den Nachbarort Kladno gebracht. Die
Frauen kamen überwiegend in KZs, die meisten Kinder
wurden später wohl vergast.
An der Wand lehnten Matratzen
Den Männern war ein anderes Schicksal zugedacht. Gegen
Mitternacht, eben hatte der 10. Juni 1942 begonnen, bekam
Willy C. eine neue Weisung: Zusammen mit einigen Kameraden
sollte er nun die verbliebenen Bewohner von Lidice zu einem
nahegelegenen Gutshaus bringen. Diesem Befehl konnte er sich
nicht entziehen – er tat wie befohlen, trotz seines
schlechten Gefühls.
Am Morgen, wohl gegen sechs Uhr, begann das eigentliche
Massaker: In Zehnergruppen führten Schutzpolizisten
die Männer von Lidice in den Garten des großen
Hofes der Familie Horak. An eine Wand hatten sie Matratzen
gelehnt, vor denen die Ortsbewohner Aufstellung nehmen mussten.
Ihnen gegenüber stand das Füsilierkommando: 20
Schutzpolizisten aus Halle unter dem Befehl ihres Zugführers.
Dann knallten Gewehrschüsse, die natürlich auch
Willy C. am Dorfrand mitbekam. Die Matratzen sollten verhindern,
dass Querschläger die Männer des Pelotons gefährdeten.
Nach nicht einmal zwei Stunden war alles vorbei, lagen 173
tschechische Männer tot im Garten von Horaks Hof. Schon
um sieben Uhr hatten Schutzpolizisten begonnen, erste Häuser
in Lidice in Brand zu setzen, nachdem sie zuvor noch das
Vieh und alle mobilen Wertsachen fortgeschafft hatten – auch
Radios und Fahrräder wurden beschlagnahmt.
Symbol für Besatzungsverbrechen
Das Massaker von Lidice im Juni 1942 gehört zu den
bekanntesten einzelnen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Der
Name der Dorfes sollte nach dem Willen der SS-Führung
in Prag "ausgemerzt" werden – doch das Gegenteil
trat ein: Durch die kalte Grausamkeit der vermeintlichen "Vergeltungsaktion" ist
Lidice zusammen mit dem auf den Tag genau zwei Jahre später
ausgelöschten französischen Dorf Oradour-sur-Glane
zum weitweit bekannten Symbol für Besatzungsverbrechen
geworden.
Umso erstaunlicher, dass fast überall zu lesen ist,
SS-Leute oder Angehörige der Sicherheitspolizei hätten
das Verbrechen verübt. In Wirklichkeit, das zeigen die
jetzt in der Schriftenreihe des Geschichtsortes Villa ten
Hompel erscheinende Studie des Historikers Stefan Klemp,
waren ganz normale Schutzpolizisten die Haupttäter.
Hauptsächlich arbeitet Klemp als Rechercheur für
das Simon-Wiesenthal-Center in Jerusalem und sucht nach den
letzten noch lebenden NS-Tätern. Anlässlich des
70. Jahrestages des Massenmordes in Lidice analysiert er
in der Broschüre der Dokumentationsstätte in Münster
zum ersten Mal systematisch die Verstrickung deutscher Schutzpolizisten
in NS-Verbrechen im besetzten Tschechien, damals "Protektorat
Böhmen und Mähren" genannt. Dafür hat
er alle verfügbaren Ermittlungsakten ausgewertet.
Frei erfundene "Beweise"
Anlass für das Massaker war das Attentat auf Hitlers
Statthalter in Prag, Reinhard Heydrich. Bei einem Bombenanschlag
am 27. Mai 1942 war der zweite Mann der SS und enge Vertraute
von Heinrich Himmler so schwer verletzt worden, dass er eine
Woche später an den Folgen starb.
Zu dieser Zeit hatten schon massive angebliche "Vergeltungsmaßnahmen" begonnen – sie
waren, da Heydrichs kommissarischer Nachfolger Kurt Daluege
praktisch keine Hinweise auf den Verbleib der Täter
hatten, nichts als Terror. Zwar behauptete die deutsche Besatzungszeitung
in Prag "Der neue Tag", es hätte "unwiderlegbare" Beweise
für die Zusammenarbeit von Einwohnern von Lidice und
den Attentätern gegeben. Das aber war frei erfunden.
Daluege, schon seit 1922 Mitglied der Hitler-Partei, gehörte
als Chef der uniformierten deutschen Polizei zur Führung
des NS-Regimes. Sie wurde im Dritten Reich zur Unterscheidung
der Kriminal- und politischen Polizei "Ordnungspolizei" genannt
und umfasste neben den ganz normalen Schutzpolizisten auch
die Feuerwehr. Kaum hatte Daluege die Funktion Heydrichs
in Prag vorläufig übernommen, ließ er "schlagartig
22 Kompanien Schutzpolizei in das Protektorat" einrücken.
Er konnte sich darauf verlassen, dass diese Männer seine
Befehle ohne Zögern ausführen würden.
Nicht die einzige Mordaktion
Die Taktik des SS-Oberstgruppenführers war einfach:
Seine Polizisten sollten Angst und Schrecken verbreiten,
um so die tschechische Widerstandsbewegung einzuschüchtern
und die Auslieferung der aus England eingeflogenen Attentäter
zu erzwingen. Und sollte das nicht gelingen, würde eben
weiter gemordet.
Lidice war nur die bekannteste, aber keineswegs die einzige
Mordaktion Anfang Juni 1942 im "Protektorat". Auf
dem Schießstand einer Polizeikaserne in Klattau etwa
ermordeten Schutzpolizisten zahlreiche Tschechen, die angeblich
von Standgerichten zum Tode verurteilt worden waren. Von
dieser Mordaktion, ebenfalls ohne Zweifel ein Kriegsverbrechen,
hat sich in Stasi-Akten eine Fotoserie erhalten. Auf den
Bildern ist erkennbar, das die Männer des Erschießungskommandos
die Uniformen von Polizeibataillonen tragen.
Diese und viele weitere Unterlagen jedoch gab die DDR-Staatssicherheit
nicht an westdeutsche Ermittler weiter. Das war einer, jedoch
nicht der einzige Grund für die unzureichende juristische
Aufarbeitung des Massakers. Insgesamt 17 Jahre lang ermittelten
die Zentrale Stelle in Ludwigsburg und die Staatsanwaltschaft
in Frankfurt am Main, doch es kam zu keiner einzigen Anklage
gegen einen der Täter von Lidice.
Im Geheimmagazin der Staatssicherheit
Klemp legt überzeugend dar, dass dies neben den grundsätzlichen
Schwierigkeiten eines Rechtsstaates, Diktaturverbrechen seinen
eigenen Prinzipien entsprechend abzuurteilen, auch mit der
chaotischen Struktur der Polizeieinheiten im "Protektorat" zu
tun hatte. Denn ständig wurden hier andere Einheiten
eingesetzt, wechselten Zuständigkeiten und Einheitsbezeichnungen.
Da aber nur konkret einzelnen Tätern nachgewiesene Verbrechen
geahndet werden können, war hier eine große Hürde.
Zugleich aber zeigt Klemp, dass auch grundsätzlich
die Verbrechen von deutschen Polizisten im Zweiten Weltkrieg
zu wenig Aufmerksamkeit bei der bundesdeutschen Justiz bekamen.
Nicht einmal der SS-Gruppenführer und Polizeibefehlshaber
in Prag Paul Riege wurde für seine Verstrickung in Besatzungsverbrechen
im "Protektorat" und Polen angeklagt. Stattdessen
veröffentlichte Riege eine mehrfach aufgelegte "Kleine
Polizei-Geschichte", in der er die Verstrickung der
Schutzpolizei kleinredete.
Mit Jahrzehnten Verspätung
Das offenkundige Unrecht hatte Riege übrigens schon
unmittelbar vor dem Massaker von Lidice erkannt: Er bekam
am Abend des 9. Juni 1942 den Befehl, das Dorf auszulöschen – und
meldete sich umgehend krank. Angeblich habe er ein "Darmleiden",
doch nur Stunden zuvor hatte an einer Jagdgesellschaft teilgenommen.
Natürlich hatte Paul Riege nach 1945 kein Interesse
daran, dass die Rolle der uniformierten Polizei aufgeklärt
wurde. So begann erst mit Jahrzehnten Verspätung die
Erforschung vieler Verbrechen, und erst zum 70. Jahrestag
liegt die erste umfassende Studie zu den Tätern des
Massakers von Lidice vor. welt.de
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