18. Juli 2012 12:01:55 thurgauerzeitung.ch
Offene Fragen um NS-Verbrecher in Ungarn
Von Charles E. Ritterband

Der heute 97-jährige Nazi-Kriegsverbrecher Laszlo Csatary hat siebzehn Jahre lang unbehelligt in der ungarischen Hauptstadt Budapest gelebt. Hinweise des Jerusalemer Wiesenthal-Zentrums wurden offenbar nicht beachtet.

Der Fall des vom Simon-Wiesenthal-Zentrum aufgespürten NS-Verbrechers Laszlo Csatary, der siebzehn Jahre lang unbehelligt unter seinem eigenen Namen in Budapest lebte, hat unbequeme Fragen aufgeworfen. Der heute 97-Jährige wird verdächtigt, im Jahr 1944 in seiner Funktion als ungarischer Polizeikommandant in der heute in der Slowakei liegenden Stadt Kosice (Kassa) für die Deportation von rund 15 700 Juden ins Vernichtungslager Auschwitz mitverantwortlich gewesen zu sein. Weniger als 500 der Deportierten überlebten. Csatary führte damals das Kommando über das jüdische Ghetto von Kosice. Er soll auch Folterungen und sadistische Übergriffe in einem Lager für Zwangsarbeiter begangen haben.

Im Jahr 1948 war Csatary in der damaligen Tschechoslowakei als Kriegsverbrecher in Abwesenheit zum Tod verurteilt worden. Im Jahr darauf floh er nach Kanada. In Montreal lebte er unbehelligt als Kunsthändler. Im Jahr 1997 wurde seine kanadische Staatsbürgerschaft jedoch widerrufen; Csatary hatte sich in seinem Antragsformular als jugoslawischer Staatsbürger ausgegeben. Er wurde aus Kanada ausgewiesen und kam nach Ungarn.

Unbeachtete Hinweise?
Csatary stand auf der vom Simon-Wiesenthal-Zentrum erstellten Liste der meistgesuchten NS-Verbrecher. Bereits im vergangenen September hat der Direktor des Jerusalemer Wiesenthal-Zentrums, Efraim Zuroff, nach eigenen Angaben die ungarische Staatsanwaltschaft über den Aufenthaltsort Csatarys informiert und mehrere Male gebeten, diesem Hinweis nachzugehen. Csatary erfreue sich offenbar guter Gesundheit. Zuroff machte kein Hehl aus seiner Frustration: Weil die Staatsanwaltschaft nicht reagiert habe, sei die Presse informiert worden, sagte Zuroff.

Am vergangenen Sonntag meldete das englische Boulevardblatt «Sun», dass seine Reporter Csatary in dessen Wohnung in Budapest aufgespürt, gefilmt und fotografiert hätten. Das Bild des aus einem Türspalt spähenden Csatary war auf der Homepage der Blattes «Sun» zu sehen.

Am Montag forderte die französische Regierung die ungarischen Behörden auf, Csatary den Prozess zu machen. Vor dem Haus, in dem Csatary wohnt, in der Györi Utca im ersten Bezirk von Budapest, versammelten sich am Montag Demonstranten, die unter Hinweis auf das hohe Alter Csatarys eine rasche Festnahme des mutmasslichen Nazi-Kriegsverbrechers forderten.

Manche dieser Demonstranten verwiesen in diesem Zusammenhang mit einiger Bitterkeit auf die jüngst erfolgte und von der Regierung Orban stillschweigend geduldete Errichtung von Denkmälern für den damaligen ungarischen «Reichsverweser» Miklos Horthy, unter dessen Herrschaft die Massendeportationen ungarischer Juden stattgefunden hatten. Auch der vielkritisierte Versuch des Parlamentspräsidenten Laszlo Köver, eine Neubestattung des antisemitischen ungarischen Schriftstellers Jozsef Nyirö in Siebenbürgen – das heute zu Rumänien gehört – durchzusetzen, wurde genannt.

Zähe Untersuchungen
Die Untersuchungen der Budapester Staatsanwaltschaft gegen Csatary kamen nur schleppend voran. Diese berief sich auf Schwierigkeiten bei der Identifizierung Csatarys, der oft seine Wohnung und seinen Aufenthaltsort in Ungarn gewechselt und sich unter dem Namen «L. Smith» behördlich angemeldet habe. Dieser Name steht jedenfalls an seiner Wohnungstür. Ausserdem verwies die Staatsanwaltschaft auf die Schwierigkeit, 68 Jahre nach den Verbrechen Zeugen zu finden und glaubhafte Aussagen zu protokollieren.

Kein Auslieferungsgesuch
Die Pressesprecherin der ungarischen Staatsanwaltschaft beteuerte am Montag in einer Fernseherklärung, dass man alles tun werde, um diesen Fall zu klären. Sie bat jedoch um Verständnis dafür, dass auch im Falle eines mutmasslichen Kriegsverbrechers die Unschuldsvermutung gelte. Da die Csatary zur Last gelegten Verbrechen sich während seiner Tätigkeit als Polizeikommandant in der Stadt Kosice abgespielt hätten, müsse man die Akten der Gerichtsverhandlung des Jahres 1948 aus der Slowakei anfordern, denn in Ungarn sei man nie gegen Csatary vorgegangen. Dies sei auch der Grund dafür gewesen, dass Csatary sich vor siebzehn Jahren aus Kanada problemlos nach Ungarn habe absetzen können.

Die Sprecherin betonte zudem, dass seitens der Slowakei bis anhin kein Ansuchen um Auslieferung Csatarys vorliege. Sie weigerte sich, zu bestätigen, dass es sich bei dem auf den Fotos des Blattes «Sun» zu sehenden Mann um Laszlo Csatary handelt. Sie fügte hinzu, dass das Blatt zu diesem Fall keine neuen Informationen geliefert habe.

thurgauerzeitung.ch