Der Fall erinnert stark an den Demjanjuk-Prozess: Erstmals
seit fast 40 Jahren könnte ein Mitglied der Lagermannschaft
von Auschwitz-Birkenau vor Gericht kommen. Der 87-Jährige
wird beschuldigt, an der Ermordung Hunderttausender Menschen
beteiligt gewesen zu sein.
Die bayerische Justiz steht möglicherweise vor einem
weiteren spektakulären Kriegsverbrecherprozess gegen
einen Wachmann aus dem Zweiten Weltkrieg. Fast 70 Jahre nach
Kriegsende und 15 Monate nach dem Urteil gegen John Demjanjuk,
der im Konzentrationslager Sobibor am Mord von mehr als 28.000
Juden mitgeholfen haben soll, muss sich die Staatsanwaltschaft
Weiden mit einem ähnlichen Fall befassen.
Ein heute 87-jähriger Mann wird beschuldigt, im KZ
Auschwitz-Birkenau an der Ermordung Hunderttausender Menschen
beteiligt gewesen zu sein. Dies geht aus einem Vorermittlungsverfahren
hervor, das am Montag bei der Staatsanwaltschaft Weiden eingegangen
ist. Verfasser ist die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen
zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.
Die Behörde mit Sitz in Ludwigsburg wirft dem Beschuldigten "einen
wesentlichen Tatbeitrag" an der Tötung wehrloser
KZ-Inhaftierter vor. Der Mann sei 1942 der Waffen-SS beigetreten
und zum Wachmann ausgebildet worden. Nach seiner Versetzung
nach Auschwitz soll er von April 1944 an im Vernichtungslager
Birkenau gearbeitet haben.
Alleine während der sogenannten Ungarn-Aktion zwischen
Mai und Juli 1944 seien dort 137 Züge mit mehr als 433.000
deportierten Menschen - vor allem Juden - eingetroffen, "von
denen mindestens 344.000 unmittelbar nach ihrer Ankunft in
den Gaskammern von Birkenau grausam getötet wurden",
wie es in dem Bericht heißt. Und weiter: "Durch
seine Tätigkeit beim Absperren der Rampe und beim Wachdienst" habe
der Mann "die Vernichtung der Deportierten im Zusammenwirken
mit anderen SS-Angehörigen gefördert und damit
einen kausalen Beitrag zu den als Mord zu qualifizierenden
Tötungsverbrechen geleistet."
Ähnlichkeiten zum Fall Demjanjuk
Für Kurt Schrimm, den Leiter der Zentralen Stelle zur
Aufklärung von NS-Verbrechen, ist der Fall ebenso bedeutsam
wie der Demjanjuk-Prozess - nicht nur wegen der außergewöhnlich
hohen Zahl an Todesopfern. Es wäre seit fast 40 Jahren
die erste Gerichtsverhandlung gegen ein ehemaliges Mitglied
der Lagermannschaft aus dem KZ Auschwitz-Birkenau, dem größten
Massenvernichtungslager unter dem nationalsozialistischen
Regime.
Nach Angaben von Historikern wurden dort bis zu eineinhalb
Millionen Menschen ermordet. Zu hinterfragen wäre auch
die kriminelle Energie des Mannes: Im Gegensatz zu John Demjanjuk,
bei dem es sich um einen sogenannten "fremdvölkischen
Hilfswilligen" handelte, meldete er sich freiwillig
zur Waffen-SS.
Der gebürtige Ukrainer Demjanjuk war im Mai 2011 vor
dem Münchner Landgericht zu fünf Jahren Haft wegen
Beihilfe zum mehrfachen Mord im NS-Vernichtungslager Sobibor
verurteilt worden. Da Staatsanwalt und Verteidigung Berufung
einlegten, wurde das Urteil allerdings nie rechtskräftig.
Im März dieses Jahres starb Demjanjuk, 91, eines natürlichen
Todes.
Jeder Wachmann war Teil der Mordmaschinerie
Der Spruch der Schwurgerichtskammer gilt bis heute als wegweisend,
da erstmals in Deutschland ein Ausländer für seine
im Ausland begangenen Kriegsverbrechen verurteilt wurde -
ohne dass ihm Einzeltaten nachgewiesen worden wären.
Die Richter hielten es für erwiesen, dass jeder SS-Mann
und jeder Wachmann als "Teil der Mordmaschinerie" am
Massenmord beteiligt gewesen sei. Dieselbe Argumentation
könnte nun auch bei dem 87-Jährigen angeführt
werden, der nach Angaben der Ermittler unter fremder Staatsbürgerschaft
im Ausland lebt.
Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen
war auf den Beschuldigten offenbar bereits im Zuge des Demjanjuk-Prozesses
aufmerksam geworden. Ein Name, den Kurt Schrimm damals nannte
und auf den die Beschreibung des Beschuldigten zutrifft,
ist der von Johann B. - ein gebürtiger Slowake, der
1952 in die USA auswanderte, die US-Staatsbürgerschaft
seiner Mutter annahm und heute in Philadelphia lebt.
Gegenüber US-Behörden hatte B. vor Jahren zwar
zugegeben, dass er im KZ Buchenwald und Auschwitz-Birkenau
stationiert gewesen sei. Von den Vorgängen in den Vernichtungslagern
habe er jedoch nichts gewusst. Sein Anwalt sagte der Zeitschrift
The Inquirer, B. sei als 17-Jähriger gegen seinen Willen
zwangsverpflichtet worden. Dem widersprach Eli M. Rosenbaum,
Director of the Criminal Division's Office of Special Investigations:
B. sei sehr wohl Teil des Nazi-Apparates zur Massenvernichtung
gewesen.
Dies zu prüfen, wird voraussichtlich Aufgabe der bayerischen
Justiz sein. Der politische Rückhalt ist in Zeiten zunehmender
rechtsextremistischer Tendenzen offenbar vorhanden. "Es
ist von zentraler Bedeutung, dass nationalsozialistisches
Unrecht und individuelle Schuld nachdrücklich aufgeklärt
und die Täter einer schuldangemessenen Strafe zugeführt
werden", erklärte Justizministerin Beate Merk am
Montag. Dies sei schließlich auch im Fall Demjanjuk
geschehen.
Die Staatsanwaltschaft Weiden muss nun ermitteln, ob sie
Anklage erheben und ein Auslieferungsverfahren beantragen
will. Nach Auskunft von Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer
könne es jedoch ein paar Wochen dauern, bis feststeht,
ob die Staatsanwaltschaft überhaupt zuständig ist.
Sie muss klären, ob der Beschuldigte vor seiner Auswanderung
tatsächlich im Raum Weiden gewohnt hat. sueddeutsche.de
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