Die
deutsche Justiz ermittelt nach Informationen dieser Zeitung
gegen einen ehemaligen SS-Wachmann. Der in den USA lebende
Johann Breyer soll in Auschwitz daran mitgewirkt haben, mehr
als 433 000 Juden in die Gaskammern zu treiben.
Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung
nationalsozialistischer Kriegsverbrechen in Ludwigsburg hat
ein Vorermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Wachmann abgeschlossen
und an die Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz abgegeben.
Die soll jetzt Anklage erheben und einen internationalen Haftbefehl
erwirken. Weiden ist zuständig, weil Breyer dort seinen
letzten Wohnsitz hatte.
Rotierendes System
Nach Auffassung der Zentralen Stelle hat Breyer wesentlich
zu den Massenmorden in Auschwitz beigetragen. Durch seine
Tätigkeit beim Absperren der Rampe und beim Wachdienst
im Lager Auschwitz-Birkenau förderte er den Ermittlungen
zufolge im Zusammenwirken mit anderen SS-Angehörigen
die Vernichtung der Deportierten und leistete damit einen „kausalen
Beitrag zu den als Mord zu qualifizierenden Tötungsverbrechen“.
Breyer ist gebürtiger Slowake und wanderte 1952 in
die USA aus, wo er die US-Staatsbürgerschaft annahm
und dann als Werkzeugmacher arbeitete. Heute lebt er in Philadelphia.
Er selbst räumte in den Anhörungen durch das US-Justizministerium – das
ihn dem Vernehmen nach sehr gern nach Deutschland ausliefern
würde – ein, Wachmann in Auschwitz gewesen zu
sein. Jedoch sei er außerhalb stationiert gewesen und
habe nichts mit den Verbrechen zu tun gehabt.
Dem gegenüber stehen die Ermittlungen der 48-jährigen
Richterin Kirsten Goetze, die mehrere Jahre lang über
Breyer und das System Auschwitz Nachforschungen anstellte
und Zeugen befragte. Demnach hatte sich Breyer mit 17 Jahren
freiwillig zur SS gemeldet und diente spätestens ab
Dezember 1943 im KZ Auschwitz II (Birkenau), wo er einer
Kompanie des Totenkopfsturmbanns angehörte. Diese Kompanie
tat im Frühjahr und Sommer 1944 ihren Dienst an der
Rampe in Birkenau.
Allein zwischen dem 19. Mai und dem 22. Juli trafen während
der sogenannten Ungarn-Aktion 137 Züge mit mehr als
433 000 Juden ein, von denen mindestens 344 000 sofort von
den Angehörigen der Wachmannschaften zu den Gaskammern
getrieben wurden. Hinzu kamen zahlreiche weitere Züge
aus allen besetzen Ländern Europas, darunter mit deportierten
Juden aus dem Reich und aus Berlin. Die Wachmannschafts-Angehörigen
waren in einem rotierenden System an der Rampe eingesetzt,
um das Entladen der Menschen zu sichern und Widerstand zu
unterbinden.
Neue juristische Auffassung
Jahrzehntelang taten sich deutsche Richter schwer mit Kriegsverbrechern.
Denn ihnen mussten konkrete Exzess-Taten wie Mord nachgewiesen
werden. „Insofern ist der Fall Breyer zu vergleichen
mit Demjanjuk“, sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralstelle.
Demjanjuk war zu fünf Jahren Haft verurteilt worden,
ohne dass ihm Einzeltaten nachgewiesen wurden.
Die Richter sahen es als erwiesen an, dass jeder SS-Mann
und jeder Wachmann als „Teil der Mordmaschinerie“ am
Massenmord beteiligt war. Das Argument führen die Ermittler
nun auch bei Johann Breyer an, denn Auschwitz-Birkenau war
ausschließlich zur Ermordung von Menschen gebaut. Diese
Rechtsauffassung setzte sich laut Schrimm in der Zentralstelle
erst in den letzten Jahren durch – was der Grund dafür
ist, dass der Fall Breyer, der dort über Jahre schlummerte,
bevor Kirsten Goetze ihn aufgriff, ein Aktenzeichen aus dem
Jahr 2003 hat.
Das neue Denken hätte sich möglicherweise überhaupt
nicht durchgesetzt, wenn nicht Kirsten Goetze und Thomas
Walther die Fälle Demjanjuk und Breyer ausgegraben und
bei den Staatsanwaltschaften Druck gemacht hätten. Thomas
Walther, heute Richter im Ruhestand, ermittelte bei der Zentralstelle
den Fall Demjanjuk.
Im Fall Breyer vertritt er als Rechtsanwalt eine Frau, die
in Auschwitz ihre beiden Geschwister verlor – genau
zu der Zeit, als Breyer dort Dienst tat. Die Frau will als
Nebenklägerin gegen Breyer auftreten. Walther sucht
weitere Nebenkläger und richtete dafür eine E-Mail-Adresse
ein unter: [email protected].
Die Staatsanwaltschaft Weiden muss nun entscheiden, ob sie
ein Auslieferungsersuchen stellt. „Das kann noch dauern“,
sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer. „Wir
haben keine Erfahrung mit solchen Verfahren und müssen
erst schauen, ob die Beweise für eine Verurteilung ausreichen.“
Johann Breyer ist inzwischen 87 Jahre alt. „Es bleibt
nicht mehr viel Zeit, die letzten lebenden Nazi-Verbrecher
vor Gericht zu bringen“, sagt Thomas Walther. „Ich
hoffe, dass die Staatsanwaltschaft Weiden in diesem Fall
schnell arbeitet.“
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