Johann
B. muss sich kaum Sorgen machen. Der 1925 in der damaligen
Tschechoslowakei geborene Sohn eines Deutschen und einer
Amerikanerin soll als ehemaliger Wachmann im KZ Auschwitz
zwar in Deutschland vor Gericht gestellt werden. Aber die
Wahrscheinlichkeit dafür, dass es dazu kommt, ist gering.
Denn der juristische Weg bis zu einem Prozess ist lang, und
B. ist schon 87 Jahre alt.
Dass B. 67 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs und des NS-Massenmords an den Juden nicht mit
Bestrafung rechnen muss, hat viel mit den Versäumnissen
bei der Verfolgung der großen und kleinen Täter
zu tun. Und mit institutionellen Mängeln. So gibt es
in Deutschland bis heute keine zentrale Anklagebehörde
für NS-Verbrechen. In diesem Fall muss die Staatsanwaltschaft
der 40.000-Einwohner-Stadt Weiden in der Oberpfalz über
eine Anklage entscheiden, weil B. hier zuletzt gelebt hat.
Die Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung
von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hat zwar Beweismaterial
gegen B. zusammengestellt und hält es für ausreichend.
Formal prüfen müssen das aber die Weidener Juristen,
die mit der schwierigen Materie unerfahren sind.
B., der seit Langem in den USA lebt, gab
in amerikanischen Medien zu, im Konzentrationslager Auschwitz
gedient zu haben, aber nur als Wachmann am Zaun und nicht
im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. "Ich habe niemanden
umgebracht, ich habe niemanden vergewaltigt, ich habe nichts
Unrechtes getan." Er habe zwar vom Massenmord gewusst,
aber ihn nicht mit angesehen: "Wir konnten nur die Außenseite
sehen, die Tore."
Die Ermittler der Zentralstelle glauben das nicht. Alle
SS-Leute in Auschwitz seien in einem rotierenden System auch
in den Gaskammern und an der Rampe eingesetzt worden, an
der die Deportierten in Güterwaggons ankamen und "selektiert" wurden.
Die Ludwigsburger Behörde empfiehlt der Staatsanwaltschaft
in Weiden, Breyer wegen Beteiligung am Mord an mindestens
344.000 Juden anzuklagen.
Die Nazi-Jäger kommen erst jetzt auf die Idee, einfache
Wachleute zu verfolgen, weil Gerichte in der Bundesrepublik
NS-Helfer lange nur dann verurteilten, wenn ihnen einzelne
Taten nachgewiesen werden konnten oder sie als "Exzesstäter" aus
eigenem Antrieb besonders grausam gehandelt hatten. Kleine
Rädchen im Getriebe kamen oft ohne Strafe davon.
Die Rechtsauffassung, wonach in reinen Vernichtungslagern
jeder SS-Wachmann am Massenmord beteiligt war, entwickelte
sich erst in den vergangenen Jahren. Im Prozess gegen Iwan
(John) Demjanjuk setzte sich die neue Sicht erstmals durch:
Das Landgericht München II befand den aus der Ukraine
stammenden früheren SS-Wachmann im Vernichtungslager
Sobibor für schuldig und verurteilte ihn zu fünf
Jahren Haft, ohne dass ihm Einzeltaten nachgewiesen wurden.
Das Urteil wurde allerdings nicht rechtkräftig, weil
seine Anwälte Berufung einlegten und der 91-Jährige
im März starb, bevor darüber entschieden wurde.
Bis die Weidener Staatsanwaltschaft im Fall B. entscheidet,
ob sie Anklage erhebt, können Monate vergehen, ließ die
Behörde wissen. Danach muss noch das zuständige
Landgericht der Stadt prüfen, ob es die Beweise für
ausreichend hält, um einen Prozess zu eröffnen – und
ob es sich zuständig fühlt. Im Fall Demjanjuk hatte
das Münchener Gericht zunächst den Bundesgerichtshof
angerufen, weil auch andere Städte als letzter Aufenthaltsort
infrage kamen.
Die USA dürften sich über ein Auslieferungsgesuch
freuen: Die dortigen Behörden haben jahrelang versucht,
B. wegen seiner NS-Vergangenheit auszuweisen. Doch er klagte
immer wieder erfolgreich dagegen. 2003 befand ein Gericht,
B. könne in den USA bleiben, weil er der SS als Minderjähriger
beigetreten und nicht freiwillig geblieben sei.
Den Akten zufolge meldete B. sich 1943 auf eine Rekrutierungskampagne
unter slowakischen "Volksdeutschen" hin zur SS.
Da war er 17 Jahre alt. Er diente zunächst im KZ Buchenwald
und spätestens ab Dezember 1943 in einer Kompanie der
Totenkopf-SS in Auschwitz.
Die von der Zentralstelle genannte Zahl von Opfern bezieht
sich auf die "Ungarn-Aktion" im Frühjahr 1944.
Damals wurden binnen vier Wochen mindestens 340.000 deportierte
Juden in die Todeskammern von Auschwitz getrieben. Tatsächlich
liegt die Zahl der getöteten Juden in der mutmaßlichen
Dienstzeit von B. in Auschwitz wesentlich höher.
Nach dem Krieg siedelt B. 1952 in die amerikanische Heimatstadt
seiner Mutter Philadelphia über, wo er bis heute lebt.
Er wurde US-Bürger und arbeitete als Werkzeugmacher.
In seinen erfolgreichen Beschwerden gegen eine Ausweisung
nach Deutschland gab er an, er sei nach einem Heimaturlaub
im August 1944 desertiert und nicht mehr nach Auschwitz zurückgekehrt.
Aber auch an dieser Darstellung gibt es Zweifel. Als B.
1951 ein amerikanisches Visum beantragte, überprüften
ihn die US-Militärbehörden im besetzten Deutschland.
Den Akten von damals zufolge wurde er noch bis zum 29. Dezember
1944 als Mitglied des SS-Bataillons in Auschwitz geführt – vier
Monate nach seiner angeblichen Fahnenflucht. Sollte er gelogen
haben, könnte das die Basis für ein neuerliches
Verfahren zur Aberkennung der US-Staatsbürgerschaft
sein.
B. hat angekündigt, sich mit allen rechtlichen Mitteln
gegen eine Auslieferung zu wehren. "Ich bin amerikanischer
Staatsbürger. Die können mich nicht deportieren",
sagte er. Inzwischen gibt er US-Medien keine Interviews mehr.
Schätzungen zufolge gibt es noch mehr als 80 weitere
ehemalige KZ-Wachleute oder vergleichbar am Holocaust Beteiligte,
die noch am Leben sind und bislang nicht zur Rechenschaft
gezogen wurden. Die allermeisten von ihnen werden vermutlich
wie Johann B. sterben, ohne sich je für ihre Taten vor
Gericht verantwortet zu haben.
zeit.de
|