27.09.2012 spiegel.de
Ehemaligem Auschwitz-Wachmann droht Anklage in Deutschland
von Benjamin Schulz

Es hat fast 70 Jahre gedauert, aber nun hat die Vergangenheit Johann Breyer eingeholt. Er wollte sich ihr entziehen, zog in die Vereinigten Staaten - vergebens, die Vorwürfe bleiben. Breyer soll als Wachmann in Auschwitz dazu beigetragen haben, mindestens 344.000 Juden in den Gaskammern umzubringen.

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hatte in dem Fall jahrelang ermittelt. Im August übergab sie ihre mehrere Ordner umfassende Akte der Staatsanwaltschaft Weiden in der Oberpfalz. Die Weidener Ermittler sind für den Fall zuständig, weil Breyers letzter bekannter Aufenthaltsort in Deutschland im Bezirk Weiden lag. Sie müssen nun entscheiden, ob das Material für eine Anklage ausreicht.
Falls man zur Überzeugung gelange, gegen Breyer bestehe ein hinreichender Tatverdacht, "muss man sich fragen, wie man in Deutschland ein Verfahren zustande bringt", sagt Gerd Schäfer, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft. Daraus folge zwar nicht zwangsläufig, dass ein Auslieferungsgesuch an die USA gestellt werde - es sei aber eine naheliegende Option.

Der Fall illustriert ein Dilemma: Der Wunsch, die Täter zur Verantwortung zu ziehen, ist bei Überlebenden und Nachfahren von Opfern groß. "Alter sollte keine Leute beschützen, die solch abscheuliche Verbrechen begangen haben", sagte ein Sprecher des Simon-Wiesenthal-Zentrums, das Nazis in aller Welt jagt. Die Suche wird jedoch immer schwieriger. Fast 70 Jahre nach Kriegsende sind viele Täter tot oder unauffindbar. Die wenigen noch lebenden Zeugen sind oft keine Hilfe, weil Altersgebrechen und Demenz ihre Erinnerung trüben.

Und der Fall Breyer verdeutlicht ein weiteres Problem der Ermittler: Die Zentrale Stelle geht davon aus, dass ihm keine konkrete Tötung nachzuweisen sein wird. Eine mögliche Anklage müsste sich deshalb wohl eine juristische Betrachtungsweise von Nazi-Verbrechen zu eigen machen, die sich in Teilen der Justiz etabliert hat: Wer mitmacht, macht sich mitschuldig - auf diese Formel lässt sich die neue Linie verkürzen. So soll die über Jahrzehnte benutzte Argumentation von Tätern ins Leere laufen, man habe ja selbst niemanden getötet, sondern nur Befehle befolgt und bei Nichtgehorchen um das eigene Leben fürchten müssen.

Der Ansatz setzt sich deutlich von früherer Rechtsprechung ab und kam etwa im Fall John Demjanjuk zum Tragen. Er, der wie Breyer nach dem Krieg in die USA gegangen war, wurde im Mai 2011 wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen im NS-Vernichtungslager Sobibór zu fünf Jahren Haft verurteilt, obwohl ihm keine Einzeltaten nachzuweisen waren. Über die Revision hatte der Bundesgerichtshof noch nicht entschieden, als Demjanjuk Mitte März starb.

"Ich habe niemanden getötet"

"Diese Rechtsauffassung wurde bei uns im Fall Demjanjuk entwickelt, und das Landgericht München ist uns gefolgt", sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle. "Es gibt zwar noch kein höchstrichterliches Urteil, aber wir fühlen uns in unserer Auffassung bestärkt." Vor diesem Hintergrund prüft die Zentrale Stelle frühere Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher, bei denen eine Anklage ausblieb, "weil man zur Auffassung gelangte, eine Individualschuld sei nicht nachzuweisen", sagt Schrimm.

Diese Perspektive könnte auch bei einer möglichen Anklage gegen Breyer relevant werden. "Wir prüfen, ob wir uns am Fall Demjanjuk orientieren", sagt Gerd Schäfer von der Staatsanwaltschaft Weiden.

Dass Breyer, Jahrgang 1925, KZ-Wachmann war, hat er selbst in Anhörungen des US-Justizministeriums bestätigt. Der Sohn eines Slowaken und einer Amerikanerin trat 1942 als 17-Jähriger in die Waffen-SS ein. Seinen Dienst versah er nach eigenen Angaben erst im KZ Buchenwald, dann im KZ Auschwitz. Dort soll er spätestens im Dezember 1943 seinen Dienst begonnen haben. Er habe im Lager Auschwitz I als Wache gearbeitet, sagt Breyer. Dort waren vor allem Gefangene, die als Sklavenarbeiter eingesperrt waren; dort machte der Arzt Josef Mengele seine menschenverachtenden Experimente an Gefangenen.

Im Lager Auschwitz II, dessen Insassen getötet wurden, will Breyer dagegen nie gearbeitet haben. "Ich habe niemanden getötet, vergewaltigt oder nur ein Haar gekrümmt." Er sei sich der Vorgänge in dem Lager bewusst gewesen, habe sie aber nie persönlich gesehen. "Wir konnten nur das Äußere sehen, die Tore."

Leben im Reihenhaus

Breyer behauptet, er sei im August 1944 desertiert und nie mehr nach Auschwitz zurückgekehrt. In den letzten Kriegswochen soll er sich in Berlin aufgehalten haben. Er gab sich als Flüchtling aus, ging 1952 in die USA und blieb dort. Er wohnt mit seiner Frau Shirley zurückgezogen in einem dreistöckigen Reihenhaus im Nordosten Philadelphias.

Bislang hat die Staatsanwaltschaft in Weiden keinen Kontakt zu ihm aufgenommen. Breyer will erst durch Reporter von den Ermittlungen in Deutschland erfahren haben. Er gab der Nachrichtenagentur Associated Press ein Interview, in dem er seinen Standpunkt wiederholte. Zuvor hatte er Medienanfragen mit einem Zettel an der Haustür abgeblockt: "Wir haben nichts mitzuteilen. Bitte gehen Sie."

Die US-Behörden sind bemüht, den deutschen Ermittlern zu helfen. Prinzipiell ist es möglich, Amerikaner nach Deutschland auszuliefern - lange wurde das bei Breyer versucht. Der Streit zog sich über viele Jahre. Dabei ging es um die Frage, ob er in seinem Einwanderungsgesuch zu seiner Nazi-Vergangenheit gelogen hatte und ob schon die US-Staatsangehörigkeit seiner Mutter ihn zu einem amerikanischen Bürger mache. 2003 entschied ein Gericht, Breyer dürfe in den USA bleiben, weil er beim Eintritt in die Waffen-SS erst 17 gewesen sei und deshalb nicht für seine Zugehörigkeit zu der Truppe verantwortlich gemacht werden könne.

"Die können mich nicht deportieren"

Ein neues Dokument könnte den Fall zusätzlich zu den Ermittlungen in Deutschland vorantreiben. Es stammt aus einer Akte, die US-Behörden 1951 vor Breyers Einwanderung angelegt hatten. Darin ist die Überprüfung seiner Nazi-Vergangenheit dokumentiert. Das Dokument widerspricht Breyers Darstellung in einem entscheidenden Punkt: Demzufolge befand er sich noch am 29. Dezember 1944 bei einer SS-Totenkopfdivision in Auschwitz - zu diesem Zeitpunkt will er nach eigener Aussage längst desertiert sein.

Der Fund ist brisant, weil Breyers Angaben zu seiner Fahnenflucht bei dem Urteil im Jahr 2003 eine wichtige Rolle spielten. Die Richter hatten damals gesagt, Breyers Aussage habe sie unter anderem zur Überzeugung kommen lassen, dass er als Volljähriger nicht freiwillig in der Waffen-SS war - dies hatte seine Vergangenheit offenbar in milderem Licht erscheinen lassen.
Ein Faktor arbeitet gegen die Ermittler: die Zeit. Wann die Staatsanwaltschaft Weiden über eine Anklage entscheidet, ist laut Sprecher Gerd Schäfer noch nicht abzusehen. Allein die Frage, ob Breyer dann nach Deutschland ausgeliefert würde, könnte viele Monate in Anspruch nehmen.

Der 87-Jährige hat angekündigt, gegen jeden Auslieferungsversuch zu kämpfen. "Ich bin ein amerikanischer Bürger, ganz so, als sei ich hier geboren. Die können mich nicht deportieren."

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