Es
hat fast 70 Jahre gedauert, aber nun hat die Vergangenheit
Johann Breyer eingeholt. Er wollte sich ihr entziehen, zog
in die Vereinigten Staaten - vergebens, die Vorwürfe
bleiben. Breyer soll als Wachmann in Auschwitz dazu beigetragen
haben, mindestens 344.000 Juden in den Gaskammern umzubringen.
Die Zentrale Stelle zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hatte in
dem Fall jahrelang ermittelt. Im August übergab sie
ihre mehrere Ordner umfassende Akte der Staatsanwaltschaft
Weiden in der Oberpfalz. Die Weidener Ermittler sind für
den Fall zuständig, weil Breyers letzter bekannter Aufenthaltsort
in Deutschland im Bezirk Weiden lag. Sie müssen nun
entscheiden, ob das Material für eine Anklage ausreicht.
Falls man zur Überzeugung gelange, gegen Breyer bestehe
ein hinreichender Tatverdacht, "muss man sich fragen,
wie man in Deutschland ein Verfahren zustande bringt",
sagt Gerd Schäfer, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft.
Daraus folge zwar nicht zwangsläufig, dass ein Auslieferungsgesuch
an die USA gestellt werde - es sei aber eine naheliegende
Option.
Der Fall illustriert ein Dilemma: Der Wunsch, die Täter
zur Verantwortung zu ziehen, ist bei Überlebenden und
Nachfahren von Opfern groß. "Alter sollte keine
Leute beschützen, die solch abscheuliche Verbrechen
begangen haben", sagte ein Sprecher des Simon-Wiesenthal-Zentrums,
das Nazis in aller Welt jagt. Die Suche wird jedoch immer
schwieriger. Fast 70 Jahre nach Kriegsende sind viele Täter
tot oder unauffindbar. Die wenigen noch lebenden Zeugen sind
oft keine Hilfe, weil Altersgebrechen und Demenz ihre Erinnerung
trüben.
Und der Fall Breyer verdeutlicht ein weiteres Problem der
Ermittler: Die Zentrale Stelle geht davon aus, dass ihm keine
konkrete Tötung nachzuweisen sein wird. Eine mögliche
Anklage müsste sich deshalb wohl eine juristische Betrachtungsweise
von Nazi-Verbrechen zu eigen machen, die sich in Teilen der
Justiz etabliert hat: Wer mitmacht, macht sich mitschuldig
- auf diese Formel lässt sich die neue Linie verkürzen.
So soll die über Jahrzehnte benutzte Argumentation von
Tätern ins Leere laufen, man habe ja selbst niemanden
getötet, sondern nur Befehle befolgt und bei Nichtgehorchen
um das eigene Leben fürchten müssen.
Der Ansatz setzt sich deutlich von früherer Rechtsprechung
ab und kam etwa im Fall John Demjanjuk zum Tragen. Er, der
wie Breyer nach dem Krieg in die USA gegangen war, wurde
im Mai 2011 wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060
Menschen im NS-Vernichtungslager Sobibór zu fünf
Jahren Haft verurteilt, obwohl ihm keine Einzeltaten nachzuweisen
waren. Über die Revision hatte der Bundesgerichtshof
noch nicht entschieden, als Demjanjuk Mitte März starb.
"Ich habe niemanden getötet"
"Diese Rechtsauffassung wurde bei uns im Fall Demjanjuk
entwickelt, und das Landgericht München ist uns gefolgt",
sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle. "Es
gibt zwar noch kein höchstrichterliches Urteil, aber
wir fühlen uns in unserer Auffassung bestärkt." Vor
diesem Hintergrund prüft die Zentrale Stelle frühere
Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher, bei denen
eine Anklage ausblieb, "weil man zur Auffassung gelangte,
eine Individualschuld sei nicht nachzuweisen", sagt
Schrimm.
Diese Perspektive könnte auch bei einer möglichen
Anklage gegen Breyer relevant werden. "Wir prüfen,
ob wir uns am Fall Demjanjuk orientieren", sagt Gerd
Schäfer von der Staatsanwaltschaft Weiden.
Dass Breyer, Jahrgang 1925, KZ-Wachmann war, hat er selbst
in Anhörungen des US-Justizministeriums bestätigt.
Der Sohn eines Slowaken und einer Amerikanerin trat 1942
als 17-Jähriger in die Waffen-SS ein. Seinen Dienst
versah er nach eigenen Angaben erst im KZ Buchenwald, dann
im KZ Auschwitz. Dort soll er spätestens im Dezember
1943 seinen Dienst begonnen haben. Er habe im Lager Auschwitz
I als Wache gearbeitet, sagt Breyer. Dort waren vor allem
Gefangene, die als Sklavenarbeiter eingesperrt waren; dort
machte der Arzt Josef Mengele seine menschenverachtenden
Experimente an Gefangenen.
Im Lager Auschwitz II, dessen Insassen getötet wurden,
will Breyer dagegen nie gearbeitet haben. "Ich habe
niemanden getötet, vergewaltigt oder nur ein Haar gekrümmt." Er
sei sich der Vorgänge in dem Lager bewusst gewesen,
habe sie aber nie persönlich gesehen. "Wir konnten
nur das Äußere sehen, die Tore."
Leben im Reihenhaus
Breyer behauptet, er sei im August 1944 desertiert und nie
mehr nach Auschwitz zurückgekehrt. In den letzten Kriegswochen
soll er sich in Berlin aufgehalten haben. Er gab sich als
Flüchtling aus, ging 1952 in die USA und blieb dort.
Er wohnt mit seiner Frau Shirley zurückgezogen in einem
dreistöckigen Reihenhaus im Nordosten Philadelphias.
Bislang hat die Staatsanwaltschaft in Weiden keinen Kontakt
zu ihm aufgenommen. Breyer will erst durch Reporter von den
Ermittlungen in Deutschland erfahren haben. Er gab der Nachrichtenagentur
Associated Press ein Interview, in dem er seinen Standpunkt
wiederholte. Zuvor hatte er Medienanfragen mit einem Zettel
an der Haustür abgeblockt: "Wir haben nichts mitzuteilen.
Bitte gehen Sie."
Die US-Behörden sind bemüht, den deutschen Ermittlern
zu helfen. Prinzipiell ist es möglich, Amerikaner nach
Deutschland auszuliefern - lange wurde das bei Breyer versucht.
Der Streit zog sich über viele Jahre. Dabei ging es
um die Frage, ob er in seinem Einwanderungsgesuch zu seiner
Nazi-Vergangenheit gelogen hatte und ob schon die US-Staatsangehörigkeit
seiner Mutter ihn zu einem amerikanischen Bürger mache.
2003 entschied ein Gericht, Breyer dürfe in den USA
bleiben, weil er beim Eintritt in die Waffen-SS erst 17 gewesen
sei und deshalb nicht für seine Zugehörigkeit zu
der Truppe verantwortlich gemacht werden könne.
"Die können mich nicht deportieren"
Ein neues Dokument könnte den Fall zusätzlich
zu den Ermittlungen in Deutschland vorantreiben. Es stammt
aus einer Akte, die US-Behörden 1951 vor Breyers Einwanderung
angelegt hatten. Darin ist die Überprüfung seiner
Nazi-Vergangenheit dokumentiert. Das Dokument widerspricht
Breyers Darstellung in einem entscheidenden Punkt: Demzufolge
befand er sich noch am 29. Dezember 1944 bei einer SS-Totenkopfdivision
in Auschwitz - zu diesem Zeitpunkt will er nach eigener Aussage
längst desertiert sein.
Der Fund ist brisant, weil Breyers Angaben zu seiner Fahnenflucht
bei dem Urteil im Jahr 2003 eine wichtige Rolle spielten.
Die Richter hatten damals gesagt, Breyers Aussage habe sie
unter anderem zur Überzeugung kommen lassen, dass er
als Volljähriger nicht freiwillig in der Waffen-SS war
- dies hatte seine Vergangenheit offenbar in milderem Licht
erscheinen lassen.
Ein Faktor arbeitet gegen die Ermittler: die Zeit. Wann die
Staatsanwaltschaft Weiden über eine Anklage entscheidet,
ist laut Sprecher Gerd Schäfer noch nicht abzusehen.
Allein die Frage, ob Breyer dann nach Deutschland ausgeliefert
würde, könnte viele Monate in Anspruch nehmen.
Der 87-Jährige hat angekündigt, gegen jeden Auslieferungsversuch
zu kämpfen. "Ich bin ein amerikanischer Bürger,
ganz so, als sei ich hier geboren. Die können mich nicht
deportieren."
spiegel.de
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