COTTBUS - Die 60 jüdischen Männer, Frauen und Kinder aus dem Ghetto in Shitomir mussten auf zwei Laster klettern und wurden in einen Wald gefahren, etwa 15 Kilometer entfernt. Dann drückten die sechs deutschen Soldaten ab und verscharrten die Opfer in einem Massengrab. Einen Monat später, im November 1942, sollen erneut 30 Feldgendarmen des Kommandostabes Reichsführer-SS ins Ghetto gekommen sein. Etwa 300 Juden wurden auf acht Lastwagen zur selben Waldlichtung gefahren und in Gruppen zu je 60 Personen erschossen.
70 Jahre nach den grausamen Verbrechen ermittelt die Staatsanwaltschaft Cottbus gegen einen Brandenburger, der möglicherweise an den Erschießungen in der Ukraine beteiligt gewesen sein soll. „Es besteht der Verdacht, dass sich der Beschuldigte der zweifachen Beihilfe zum Mord an 360 Personen schuldig gemacht hat“, bestätigt Petra Hertwig, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Cottbus, gegenüber der MAZ. Der verdächtige Cottbuser, er ist inzwischen 91 Jahre alt, sei vernommen worden und habe auch ausgesagt. Zu Details wollte sich Hertwig aus ermittlungstaktischen Gründen noch nicht äußern. „Wir prüfen, ob es noch andere Ermittlungsansätze gibt“, sagt Hertwig. Das könnten etwa weitere Angehörige der Einheit sein, die Zeugen der Verbrechen waren.
Doch genau da beginnt das Problem: 67 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gestalten sich Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher immer schwieriger. Die Täter sind oft gesundheitlich angeschlagen, können oder wollen sich nicht mehr erinnern. Und Zeugen, die Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen könnten, leiden – aus Angst als Mittäter entlarvt zu werden – an Gedächtnislücken oder sind längst tot.
Auch das Wissen über die Exekutionen in der Ukraine beruht weitgehend auf den Aussagen eines Zeugen, der bereits 1971 gestorben ist und 1947 in russischer Kriegsgefangenschaft die Verbrechen geschildert hat. 1985 hatte die Staatsanwaltschaft Wiesbaden das Verfahren gegen den beschuldigten Chef des mutmaßlichen Erschießungstrupps eingestellt, weil sie Zweifel am Wahrheitsgehalt der Zeugenaussagen hegte.
Dass der Fall nach so langer Zeit nun überhaupt noch einmal ins Rollen kommt und in Brandenburg landete, ist mehr oder weniger Zufall – und gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie kompliziert die Aufarbeitung von NS-Verbrechen ist: Auf die Spur des Mannes gekommen war die Zentrale Stelle im baden-württembergischen Ludwigsburg, eine 1958 von den Bundesländern eingerichtete Behörde zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen. Auf der Suche nach Zeugen in einem anderen Verfahren stießen die Ludwigsburger Justizmitarbeiter in ihrer fast 1,7 Millionen Blatt zählenden Kartei über Personen, Tatorte und Einheiten auf den Namen Herbert N.
Dieser, so belegen es der MAZ vorliegende Unterlagen, war als SS-Sturmmann Angehöriger des Kommandostabes Reichsführer-SS – jener Einheit, die die Juden aus dem Ghetto in Shitomir umgebracht haben soll. Ein Verlobungs- und Heiratsgesuch, das just jener Vorgesetzte unterschrieben hat, gegen den bereits 1985 ermittelt worden war, legen nahe, dass N. bei den Erschießungen dabeigewesen sein könnte. Hinzu kommt, dass ihm im Dezember 1942 das Kriegsverdienstkreuz verliehen wurde. Eine „Auszeichnung“, die oft nach der Teilnahme an Exekutionen angehängt wurde.
Genug Hinweise, um einen Anfangsverdacht zu begründen, und die Argumentation der Staatsanwaltschaft Wiesbaden noch einmal zu überprüfen. „Man geht erst einmal davon aus, dass sich Angehörige einer Einheit in toto schuldig gemacht haben könnten“, erklärt Staatsanwalt Thomas Will, stellvertretender Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle. Gemäß dem Wohnort des Beschuldigten wurde das Verfahren im Februar zur Weiterbearbeitung an die Staatsanwaltschaft in Cottbus weitergeleitet.
„Es gilt die Unschuldsvermutung“, betont Thomas Will. Selbst wenn nachgewiesen werden kann, dass N. zum Tatzeitpunkt Teil der Einheit war, beweise das noch nicht, dass er auch bei den Erschießungen dabei war. „Vielleicht hatte er an dem Tag Küchendienst oder war gar nicht im Einsatz“, so Will. Kurzum: Für die Cottbuser Ankläger beginnt eine akribische Suche.
Michael Neff weiß, wie schwierig es ist, NS-Kriegsverbrechern auf die Spur zu kommen. „Das ist eine Herkulesarbeit“, sagt der Staatsanwalt aus Frankfurt (Oder). Bei seiner Ermittlungsbehörde liegen noch drei offene Verfahren von 2008, die in Ludwigsburg vorrecherchiert wurden. Nicht, weil wie im Cottbuser Fall ein Brandenburger im Verdacht steht, sondern weil bei NS-Verfahren gegen Unbekannt der Bundesgerichtshof die Fälle den Staatsanwaltschaften der Länder zuweist.
In allen Fällen, die in Frankfurt liegen, geht es um Massaker in Weißrussland, die Soldaten der 4. Armee zur Last gelegt werden. In einem Verfahren werden 1000, in den beiden anderen 400 beziehungsweise 300 Soldaten beschuldigt. „Das ist ein Puzzlespiel“, sagt Neff. Im Bundeszentralregister oder bei Versicherungen fahnden die Ermittler nach Namen und Adressen. „Wir haben natürlich ein Interesse, solche Verbrechen auch nach langer Zeit noch aufzuklären“, so Neff. „Mord verjährt nicht.“ Sechs Verfahren, die in Frankfurt (Oder) gelandet sind, mussten allerdings eingestellt werden, weil es nicht möglich war, noch Zeugen ausfindig zu machen, bedauert der Staatsanwalt.
„Das frustriert“, sagt auch Thomas Will über Misserfolge bei der Jagd nach Kriegsverbrechern. Oft müsse man zur Kenntnis nehmen, dass einem Beschuldigten nach so vielen Jahren nichts mehr nachgewiesen, ein Verbrechen nicht gesühnt werden kann. 20 bis 30 Vorermittlungsverfahren pro Jahr leiten die Ludwigsburger noch an die Staatsanwaltschaften der Länder weiter. Aber nur in einem Zehntel der Fälle kommt es tatsächlich zu einer Anklage. Trotzdem müsse die Arbeit weitergemacht werden, so lange noch mögliche Täter leben, ist Thomas Will überzeugt. „Für Angehörige und Überlebende ist es wichtig zu wissen, dass derartige Taten bis zum Schluss verfolgt werden.“ Und für zukünftige Generationen, so hofft der Staatsanwalt, ist es auch eine Mahnung. (Von Marion Kaufmann)