09.04.2013 berliner-zeitung.de
NS-Verbrecher und die Justiz: Zu spät, zu langsam
Von Andreas Kopietz

Wenn mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher noch vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden sollen, ist Eile geboten. Ein Beispiel dafür ist der frühere SS-Mann Johann Breyer. Hunderttausende soll er in die Gaskammern geschickt haben, und lebt - noch - als Rentner in den USA.

Die einstigen Täter sind hochbetagt, nur wenige leben überhaupt noch. Doch die Mühlen der Justiz mahlen langsam, meist zu langsam.

Einer der mutmaßlichen Verbrecher ist der frühere SS-Mann Johann Breyer. Dem 87-Jährigen, der ab Dezember 1943 im Konzentrationslager Auschwitz II (Birkenau) eingesetzt gewesen sein soll, kam die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bereits im Jahr 2003 durch einen Hinweis aus den USA auf die Spur.

Einige Jahre später nahm sich Ermittlungsrichterin Kirsten Goetze des Falls an und trieb ihn voran. Sie führte gegen den heute in den USA lebenden Rentner akribische Vorermittlungen. Fahnderin Goetze hörte Zeugen, Opfer und Nebenkläger an, um Breyer in Deutschland vor Gericht stellen zu können.

"Das kann noch dauern"

Der Vorwurf gegen Breyer lautet, dass er geholfen hat, Hunderttausende Juden in die Gaskammern zu treiben. Die Kompanie des Totenkopfsturmbanns der SS, dem er angehörte, tat im Frühjahr und Sommer 1944 ihren Dienst an der Rampe in Birkenau. Allein zwischen dem 19. Mai und dem 22. Juli trafen 137 Züge mit mehr als 433.000 ungarischen Juden ein. Mindestens 344.000 dieser Menschen haben die Angehörigen der Wachmannschaften direkt in die Gaskammern geschickt.

Im August 2012 übergab Ludwigsburg diese Vorermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaft im bayerischen Weiden. Dort war der letzte Wohnort Johann Breyers in Deutschland. Es wäre seit den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt am Main die erste Gerichtsverhandlung gegen ein einstiges Mitglied der Lagermannschaft aus dem Vernichtungslager Birkenau.

Nun ist es an der Staatsanwaltschaft Weiden, ein Auslieferungsersuchen an die USA zu stellen. „Das kann noch dauern“, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer. „Wir müssen erst schauen, ob die Beweise für eine Verurteilung ausreichen.“ Einen Zeitraum, wann diese Ermittlungen abgeschlossen sind, kann er nicht nennen.

Kein Verständnis für Verzögerungen

Die amerikanische Seite, die auf ein Auslieferungsantrag wartet, zeigt sich bereits ungehalten. Eli Rosenbaum, der Chef des zuständigen Ermittlungsbüros Office for Special Investigations (OSI) im US-Justizministerium hat im Dezember bei der bayerischen Justizministerin Beate Merk (CSU) vorgesprochen, um die Dringlichkeit des Verfahrens zu unterstreichen. Geschehen ist seither dennoch nichts.

Thomas Walther, selbst einst für die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg tätig, vertritt einige Nebenkläger und zeigt ebenfalls kein Verständnis für die Verzögerungen. „Es entsteht der Eindruck, dass man dort den Fall eigentlich nicht will.“ Als Ermittler in Ludwigsburg hatte Walther bereits gemeinsam mit Kirsten Goetze den einstigen SS-Helfer im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, vor Gericht gebracht.

Auch für den Fall Breyer hat Kirsten Goetze ein umfangreiches Dossier recherchiert. Darin enthalten sind unter anderem Unterhaltsanträge aus dem Jahr 1945 von Breyer für seine Eltern. Breyer wollte von seinem damaligen Fürsorgeoffizier der Waffen-SS in der Slowakei Geld für seine Eltern, ein Landwirtsehepaar, das den heimischen Hof ohne den Sohn demnach nicht bewirtschaften konnte. In diesen Anträgen sind Breyers Dienstzeiten und -orte in Auschwitz aufgeführt. Das beweist, dass Breyer tatsächlich in Auschwitz-Birkenau, dem Vernichtungslager, tätig war und nicht, wie er selbst behauptet, in Auschwitz I, dem Arbeitslager.

Trotz dieser Faktenlage zögert die Weidener Staatsanwaltschaft. „Das sieht ganz nach Verzögerungstaktik aus“, sagt Walther.

Verweis auf die Richtlinien

In anderen anhängigen Verfahren steht es nicht besser. Noch länger liegt zum Beispiel der Fall des 91-jährigen Ukrainers Iwan Kalymon bei der Staatsanwaltschaft in München. Die Fahnder in Ludwigsburg sind sicher, dass Kalymon, der in Troy im US-Bundesstaat Michigan lebt, als ukrainischer Hilfspolizist bei der Räumung des Gettos Lemberg sowie an Massenerschießungen beteiligt war. In einer Notiz schrieb Kalymon sogar selbst: „Ich, Iwan Kalymon vom 5. Kommissariat der ukrainischen Polizei, habe dienstlich während der Judenaktion am 14.8.1942 um 19 Uhr die Waffe eingesetzt und 4 Stück Munition verwendet, wobei ich eine Person verletzt und eine getötet habe.“

Schon im Januar 2010, zwei Jahre vor dem Fall Breyer, hatte die Zentrale Stelle ihre Vorermittlungen abgeschlossen und der Staatsanwalt München übergeben. Das US-Justizministerium würde ihn – wie auch Breyer – nach eigenem Bekunden gern ausliefern, wenn die deutsche Justiz es nur wünsche.

Dazu müsste die Staatsanwaltschaft München Anklage erheben. Die ist aber noch dabei, die Ermittlungen der Ludwigsburger zu überprüfen. „Wir müssen einen ausreichenden Tatnachweis führen“, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch. Monatelang blieb das Verfahren allerdings im Landeskriminalamt München liegen, weil der zuständige Sachbearbeiter einen Verkehrsunfall hatte. Anlass zur Beschleunigung sieht Steinkraus-Koch angesichts der betagten Beschuldigten nicht. „Das Alter spielt für das Verfahren nur bedingt eine Rolle.“

Entzug auf natürliche Weise

Thomas Walther ärgert das. Er verweist auf die Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren. Dort heißt es: „Die Ermittlungen sind zunächst nicht weiter auszudehnen als nötig ist, um eine schnelle Entscheidung über die Erhebung der öffentlichen Klage oder die Einstellung des Verfahrens zu ermöglichen.“

Häufig ist inzwischen das Argument zu hören, dass man die großen Kriegsverbrecher laufen ließ und nun die kleinen jagt. Walther lässt das nicht gelten. „Natürlich ist es falsch, dass sich viele bis an ihr Lebensende nicht verantworten mussten“, sagt er. „Aber wenn etwas über Jahrzehnte falsch gemacht wurde, kann man doch deswegen nicht das Unrecht weiterführen.“

Auch die 50 Männer auf der aktuellen Liste und noch viele mehr hätten bereits früher zur Verantwortung gezogen werden können. Seit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den 1960er-Jahren existiert die sogenannte Frankfurter Liste, eine Aufstellung aller Wachleute.

So konnte sich die Mehrzahl der Verantwortlichen inzwischen auf natürliche Weise einem Verfahren entziehen. Wie zum Beispiel Osyp Firishchak. Der Ukrainer soll als Hilfspolizist an Mordaktionen gegen die jüdische Bevölkerung teilgenommen haben. Sein Fall liegt ebenfalls seit fast zwei Jahren in München. Firishchak starb vor kurzem im Alter von 91 Jahren.

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