22.04.13 welt.de
"Die Zeit darf die Täter nicht beschützen"
Von Michael Borgstede

Seit 30 Jahren sucht Efraim Zuroff NS-Verbrecher. Der israelische Historiker koordiniert für das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem  die Bemühungen, auch fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende die noch lebenden Täter des Holocaust und von Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

Efraim Zuroff:

Sagen Sie, wie geht es dem Herrn Lipschis? Ist er bei guter Gesundheit?

Die Welt:

Für sein Alter soll er ganz vital sein, berichten Kollegen, die ihn gesprochen und gesehen haben.

Gut. Ich bete jeden Tag für seine Gesundheit. Ich bin wohl der einzige Jude, der sich um die Gesundheit von alten Nazis sorgt.

Weil Sie sie vor Gericht sehen möchten.

Hören Sie, der Mann hat in seiner Jugend ja nicht alten Leuten über die Straße geholfen. Hans Lipschis hat mehr als drei Jahre in der größten Todesfabrik der Menschheitsgeschichte verbracht.

Er sagt, er habe vom Massenmord in Auschwitz nur gehört, aber nichts gesehen.

Ja, das sagen sie alle.

Lipschis ist 93 Jahre alt. Warum haben Sie ihn erst jetzt auf die Liste der meistgesuchten Nazi-Verbrecher gesetzt?

Weil es vorher einfach keine Chance auf eine Anklage gegen ihn gab. 1983 wurde Lipschis aus den USA  ausgewiesen, die Amerikaner haben damals ihr Beweismaterial nach Ludwigsburg an die Zentrale Stelle der Staatsanwaltschaften zur Verfolgung von NS-Verbrechen geschickt, aber dort konnte man nichts machen: Es gab keine Beweise, dass er persönlich an den Untaten beteiligt gewesen war.

Wurde denn damals in Deutschland  ermittelt?

Das glaube ich nicht. Ich kann es nicht beweisen. Aber Eli Rosenbaum, einer der drei US-Staatsanwälte damals, hat mir persönlich sehr deutlich gesagt, dass die Deutschen überhaupt kein Interesse an diesen Fällen hatten.

Und das ist heute anders?

Das ist heute vollkommen anders. Mit dem Urteil gegen John Demjanjuk hat sich auch die Ausgangssituation geändert. Im Sommer nach der Urteilsverkündung bin ich nach Ludwigsburg gereist. Ich wollte herausfinden, welche Auswirkungen das Urteil auf ihre Arbeit haben wird. Ich habe ihnen gesagt, dass sie alle Menschen anklagen können, die in Vernichtungslagern tätig waren, die nicht zugleich auch Arbeitslager waren. Da gab es vier – Belzec, Treblinka, Sobibor und Chelmno. Und natürlich die Einsatztruppen. In Ludwigsburg sah man das ebenso. Es gebe sogar noch weitere Orte, auf die das Prinzip des Demjanjuk-Urteils angewendet werden könnte.

Zum Beispiel Auschwitz?

Anscheinend, ja.

Warum hat es dieses Urteil nicht schon vor 50 Jahren gegeben?

Weil man dann Hunderte, wahrscheinlich Tausende vor Gericht hätte stellen müssen. Die Aufgabe, vor der Deutschland 1949 stand, war gar nicht zu bewältigen. Man konnte nicht jeden am Holocaust Beteiligten dafür bezahlen lassen. Damit wäre jedes Land überfordert gewesen. Man musste Prioritäten setzen, konzentrierte sich auf Befehlsgeber und auf deutsche Bürger. Heute ist Deutschland stark genug, um jeden noch lebenden Täter anzuklagen. Es gibt im politischen System niemanden mehr, der sich dagegen wehrt. Berlin  wird nicht untergehen, wenn man ein paar mittleren und niederen SS-Rängen den Prozess macht.

Der Grund für die stockende Strafverfolgung war also nicht mangelnder Wille, sondern hoffnungslose Überforderung?

Nein, Moment. Natürlich gab es Richter, die Mitgefühl gegenüber den Tätern verspürten. Bis vor wenigen Jahren hat die deutsche Justiz sich bemüht, die Zahl der Fälle möglichst gering zu halten. Offiziell hat man in Deutschland den Befehlsnotstand nicht als Ausrede für Kriegsverbrecher anerkannt, praktisch aber eben doch. Warum wandte sich Fritz Bauer mit seinen Informationen zu Adolf Eichmann an Ben Gurion? Ein deutscher Jude, der heimgekehrt war, als Staatsanwalt die Justiz mit aufbaute und an das neue Deutschland glaubte – bis zu einer gewissen Grenze eben. Aber letztlich musste Deutschland sich der Vergangenheit stellen. Das ist nicht wie Österreich . Die Österreicher haben immer behauptet, sie seien das erste Opfer der Nazis gewesen – der größte Unsinn, den ich je gehört habe. Deutschland hatte diese Möglichkeit nicht. Heute ist die Bundesrepublik eines der wenigen Länder, in denen es einen politischen Willen gibt, Nazi-Verbrecher anzuklagen.

Gegen 50 heute in Deutschland lebende Auschwitz-Wächter wird nun ermittelt. Was erhoffen Sie sich davon?

Wenn die Gerichte verstehen, dass Eile geboten ist, dann kann daraus noch etwas werden. Vielleicht wird es 15 Verfahren geben. Fünf Schuldsprüche wären schon ein Erfolg.

Dass die über 90-jährigen Täter ihre letzten Tage im Gefängnis verbringen? Ist das Gerechtigkeit?

Natürlich ist es Gerechtigkeit! Die vielen Jahre haben die Schuld nicht ausgelöscht, die Zeit darf die Täter nicht beschützen. Wir, die Generation nach der Schoah, tragen Verantwortung gegenüber den Opfern. Warum soll ein Täter verschont werden, nur weil er alt ist? Es ist ein wichtiges Signal: Wer solche Taten begeht, kann auch nach Jahrzehnten noch verurteilt werden.

Simon Wiesenthal hat vor zehn Jahren gesagt, er habe alle Naziverbrecher gefunden, die er gesucht habe. Wer noch lebe, sei zu alt und schwach, um vor Gericht zu stehen.

Es war sein Ego, das da gesprochen hat. Er hat sich geirrt. Seit 2001 gab es weltweit 100 Gerichtsverfahren gegen Nazi-Verbrecher in der Welt – mehr als die Hälfte gegen Menschen, die an der Schoah beteiligt waren. Allerdings sind da auch Ausweisungsverfahren eingerechnet, und einige Leute haben mehrere Verfahren am Hals. Hier, das ist unser Jahresbericht. Wir nehmen jedes Jahr eine andere Farbe, und bald ist keine mehr übrig.

Dann müssen sie wirklich aufhören.

(Zuroff lacht) Wissen Sie, ich muss mich immer mit dem Alter der Täter und ihrer schlechten Gesundheit auseinandersetzen. Und ich sage: "Schaut euch nicht jene alten, kranken Männer an, sondern denkt an die jungen Kerle auf dem Höhepunkt ihrer Kraft, die damals die schrecklichsten Verbrechen begangen haben."

Hatten Sie eigentlich mal einen Fall, in dem ein Täter Reue gezeigt hat?

Es soll einige wenige solcher Fälle gegeben haben. Mir ist noch keiner begegnet. Dabei wäre es ja so einfach; sie könnten sagen: "Wir waren jung, wir waren dumm. Man hatte uns einer Gehirnwäsche unterzogen, wir waren überzeugt, dass die Juden unser Feind sind und wir sie umbringen müssen. Und das tut uns heute leid." Doch das hören Sie nicht. Das Mitgefühl der Täter gilt immer nur Tätern.

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