23.04.13 welt.de
Die mysteriöse Vergangenheit von SS-Mann Lipschis
Von Agnieszka Filipiak und Gerhard Gnauck

Im Leben des einstigen SS-Manns Hans Lipschis, gegen den jetzt ermittelt wird, gibt es einen großen weißen Fleck: die ersten 22 Jahre bis zu seinem Dienstbeginn in Auschwitz. Geboren wurde er 1919 im litauischen Ort Kretinga, fast an der Ostsee, nicht weit von Memel (heute Klaipeda), wo einst Deutschland endete.

Kretinga hatte vor dem Krieg 4500 Einwohner, heute leben hier 21.000 Menschen. Im Zentrum des Ortes steht eine lutherische Kirche aus dem 19. Jahrhundert – die Deutschen hier waren meist evangelisch, die Litauer katholisch. Ein Drittel der Bevölkerung waren Juden. Davon zeugt der alte jüdische Friedhof, auf dem heute viel Müll und leere Flaschen liegen.

Wer sich in diesen Tagen in Kretinga umhört, wird schnell auf Spuren eines Antanas Lipsys stoßen – so schrieb sich der Name früher. Im Heimatmuseum zeigt uns der Historiker Julius Kanarkas ein Register verlassener Höfe. Es betrifft Familien, die 1941 "heim ins Reich" umgesiedelt wurden.

Antanas, Johas (der spätere Johann, sein Vater?) und Jokubas Lipsys erscheinen auf der Liste. Antanas hatte demnach im nahe gelegenen Dorf Laumales 14 Hektar Land. Die Lutheraner, sagt der Historiker, lebten meist draußen auf dem Lande, während die Juden in der Stadt wohnten; ihnen gehörten die meisten Läden, die Bank und die erste Tankstelle im Ort.

Umsiedlungen betrafen die Familie offenbar

"Ja", sagt eine Frau, "wir sind mit den Lipschis befreundet, die Tochter kommt manchmal auf Heimatbesuch vorbei." Der Antanas im Dorf Laumales, das sei wohl eher der Vetter von dem Antanas, nach dem wir suchen, meint sie. Sie erzählt uns das ganz privat, denn auf Gespräche mit Journalisten ist sie nicht vorbereitet. "Das ist Politik", sagt sie abwehrend. Mehr ist von der Frau zunächst nicht zu erfahren.

Die Rote Armee besetzte 1940 das Land, das – gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt – Teil der Sowjetunion wurde. Aus dem Haus der Franziskaner machte die sowjetische Geheimpolizei NKWD ein Gefängnis und deportierte viele Bürger. Ein Jahr später kam die Wehrmacht. Deutsche Einheiten und litauische Helfer machten Jagd auf Juden und Kommunisten.

Dazwischen liegen Vorgänge, die offensichtlich die Familie Lipschis getroffen haben: die von den NS-Behörden angeordneten Umsiedlungen. Litauen mit seinen Mehrfachumsiedlungen war der Höhepunkt dieser wahnhaften Politik. Nachdem Hitler das Baltikum Stalin überlassen hatte, sorgten sich zunächst vor allem die Deutschen in Estland und Lettland.

Sie waren Teil der Elite ("baltische Barone") und fürchteten den sowjetischen Einfluss besonders. Schon bis Ende 1939 wurden 66.000 von ihnen "heim ins Reich" geholt – zumeist ins besetzte Polen.

Deutsch-sowjetische Vereinbarung für Umsiedlungen

In Litauen dagegen hatten die Deutschen meist einfache Berufe und waren als Gruppe schlecht organisiert. Sie zählten (ohne das Memelland) 29.000 Menschen. Erst als 1940 die Sowjets Litauen annektierten, Enteignungen und Verhaftungen sie trafen, riefen sie um Hilfe. Im Herbst 1940 kam es zu deutsch-sowjetischen Verhandlungen. Man versuchte, ein Paket zu schnüren: Deutsche aus Litauen "heim ins Reich", dafür Litauer und Russen aus dem deutschen Machtbereich "heim ins sowjetische Litauen". Am 10. Januar 1941 wurde unterzeichnet.

Im Februar und März wurden mehr als 50.000 Menschen aus Litauen ausgesiedelt, aus dem Kreis Kretinga allein 2600. Viele Litauer oder Personen aus gemischten Familien gaben sich dabei als Deutsche aus, um dem sowjetischen Einflussbereich zu entkommen. Die deutschen Behörden drückten oft ein Auge zu – so könnte es auch im Fall Lipschis gewesen sein. Sie wurden nach Mecklenburg, Ostpreußen, ins Warthegau gebracht – offenbar auch nach Schneidemühl, dessen "Umsiedlungslager" Lipschis bei der SS 1941 als "Heimatadresse" angibt.

Umgekehrt war klar: Wer die Umsiedlung verweigerte, wurde zum Feind – für beide Diktaturen. In der Gegenrichtung kamen knapp 21.000 Umsiedler nach Litauen. Als im Juni 1941 die Wehrmacht die Sowjetunion angriff, wurde ein Teil der Umsiedlungen rückgängig gemacht. Jetzt plante man in Berlin eine "Siedlungsbrücke" von Ostpreußen durch Litauen nach Riga.

Wer "rassisch" und auf andere Weise geeignet schien, und das galt für 56 Prozent der Litauendeutschen (aber vermutlich nicht für die Lipschis), bekam jetzt Höfe in Litauen, aus denen oft die neu Angesiedelten (Litauer, Russen) wieder vertrieben werden mussten.

Offene Fragen im Fall Lipschis

Offen bleibt allerdings, warum Hans Lipschis Ende 1941 wieder in der Region ist und im Bezirk Königsberg zur Waffen-SS eingezogen wird. "Wenn er Anfang des Jahres in die Umsiedlungsaktion gegangen wäre, erscheint es merkwürdig, dass er dann ausgerechnet in Königsberg eingezogen wurde", betont Ruth Leiserowitz, Vizedirektorin des Deutschen Historischen Instituts Warschau und Kennerin der Geschichte Litauens.

Leiserowitz verweist auf den Ulmer Prozess von 1958, in dem der litauische Polizist und NS-Kollaborateur Pranas Lukys aus Kretinga wegen Mithilfe an der Ermordung von über 300 Juden in Kretinga zu einer Haftstrafe verurteilt wird. "Lukys und weitere 40 bis 50 litauische Polizisten waren 1940, zu Beginn der sowjetischen Besatzungszeit, über die Grenze nach Deutschland geflohen. Sie wurden von der Gestapo in einem Arbeitslager in Kudern in Ostpreußen untergebracht und geschult."

Im Juni 1941 hätten sie als sogenannte Ortskundige die Wehrmacht beim Einmarsch begleitet und den Judenmord unterstützt. "Die Namen der Komplizen von Lukys tauchen in den Vernehmungen zum Ulmer Prozess jedoch nicht auf."

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