07.05.13 abendblatt.de
Warum Hans Lipschis erst jetzt angeklagt wird
Von Michael Borgstede, Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre hat die deutsche Justiz einen über 90-jährigen früheren KZ-Wachmann in Untersuchungshaft genommen. Hans Lipschis, der von Ende 1941 bis Januar 1945 im KZ und Vernichtungslager Auschwitz als Wachmann und Koch tätig war, ist wegen Fluchtgefahr inhaftiert worden. Zuvor hatte der nach seiner Ausweisung aus den USA staatenlose gebürtige Ukrainer John Demjanjuk von 2009 bis 2011 hinter Gittern gesessen.

Demjanjuk wurde vor Gericht gestellt und wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen im Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sein Sohn hatte der Justiz nach dem Schuldspruch vorgeworfen, Deutschland habe den Prozess gegen seinen Vater instrumentalisiert. Es sei darum gegangen, aller Welt zu beweisen, "dass Deutschland nicht schuldig ist, während die deutschen Altersheime von wahren Tätern" voll seien.

Jetzt zeigt die Festnahme von Hans Lipschis, dass diese Polemik offenkundig falsch war. Auch Täter mit deutschem Pass werden keineswegs verschont.

Washington bat deutsche Behörden um Unterstützung

Allerdings haben die deutsche Behörden gerade im Fall Lipschis nicht immer diesen Willen erkennen lassen. Das zeigen Unterlagen aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, die Journalisten abendblatt.de vergangene Woche erstmals überhaupt einsehen durften. Es handelt sich um Akten zu Rechtshilfeersuchen des Office of Special Investigations (OSI), das in die USA eingewanderte NS-Verbrecher ausfindig machen sollte.

Seit 1981 untersuchte das OSI den Fall Lipschis. Der gebürtige Litauer war 1956 aus einem Übergangslager bei Hamburg in die USA ausgewandert und hatte sich in Chicago niedergelassen. Dort lebte er ein Vierteljahrhundert unbehelligt.

Das änderte sich Anfang der 80er-Jahre: Nun interessierten sich US-Behörden für den früheren SS-Rottenführer mit deutschem Pass. Washington bat bundesdeutsche Behörden um Unterstützung. Die US-Botschaft in Bonn schickte ungewöhnlich oft diplomatische Anfragen, sogenannte Verbalnoten, ans Auswärtige Amt. Manchmal mehrere pro Monat.

Die US-Ermittler gingen gewissenhaft vor. Schon Ende Oktober 1981 benannten sie zehn Personen, die in der gleichen SS-Totenkopf-Kompanie wie Lipschis gedient hatten. Ein halbes Jahr später schickte das OSI einen Historiker nach Deutschland, der Zeugen befragen und Archivalien einsehen sollte. Die deutsche Seite reagierte meist diplomatisch-unverbindlich, schickte aber in der Regel die erbetenen Dokumente in die USA.

Auswärtiges Amt bittet um Ermittlungsergebnisse

Allerdings war in Deutschland wenig zum Fall Lipschis bekannt. Das Bundeskriminalamt teilte mit, zu ihm seien keine "Vorgänge" angelegt. Als dann OSI-Chef Allan Ryan einen Tag vor Weihnachten 1982 telefonisch mitteilte, dass Lipschis sich gegen seine Abschiebung in die Bundesrepublik nicht wehren werde, schickte die deutsche Botschaft in Washington D.C. ein verschlüsseltes Fernschreiben nach Bonn. Jetzt seien "Presseanfragen zu erwarten, die sich voraussichtlich insbesondere darauf konzentrieren werden, ob Lipschis strafrechtlich verfolgt" werde: "Um baldmögliche Weisung, ob eventuell Verfahren gegen Lipschis wegen Mordes zu erwarten ist, wird gebeten."

Im Auswärtigen Amt nahm man diese Bitte ernst. Schon am nächsten regulären Arbeitstag antwortete das zuständige Referat und kündigte eine baldige Sprachregelung an. Sie folgte am vorletzten Tag des Jahres: "Soweit der Bundesregierung bekannt ist, sind derzeit keine strafrechtrechtlichen Ermittlungen gegen Lipschis anhängig. Anhaltspunkte für seine Beteiligung an Gewaltverbrechen sind den deutschen Strafverfolgungsbehörden bislang nicht bekannt geworden. Nach den derzeitigen Erkenntnissen ist Lipschis in der Verwaltungsabteilung der Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau tätig gewesen." Das reichte nach der damaligen Rechtsprechung allerdings nicht für eine Anklage.

Trotzdem bat das Auswärtige Amt die amerikanischen Partner, die Ermittlungsergebnisse im Fall Hans Lipschis bereitzustellen: "Sollte sich aus einer Auswertung dieses Materials der Verdacht einer Beteiligung Lipschis an den Gewaltverbrechen ergeben, werden die deutschen Strafverfolgungsbehörden alle zur strafrechtlichen Verfolgung erforderlichen Maßnahmen ergreifen." Das OSI erklärte sich bereit.

Lipschis verlässt Amerika

Von dieser transatlantischen Korrespondenz bekam Lipschis nichts mit. Eine Woche vor dem von der US-Regierung gebuchten und bezahlten Flug verließ der Deutsche offenbar auf eigene Kosten Amerika. Das erfuhren die Behörden beider Länder erst im Nachhinein. Der Vorteil für Lipschis: Weder bei der Abreise noch bei der Ankunft erwarteten ihn Journalisten.

Mit der Ausweisung war der Fall des Auschwitz-Wächters keineswegs abgeschlossen. Anfang Mai 1983 telegrafierte die Washingtoner Botschaft nach Bonn, man habe Zeitungen entnommen, "dass Lipschis, der in der Lagerküche von Auschwitz tätig gewesen sei, in der Bundesrepublik nicht mit strafrechtlicher Verfolgung wegen NS-Verbrechen rechnen müsse". Die deutschen Diplomaten in den USA waren alarmiert: "Botschaft bittet vorsorglich um Unterrichtung, ob derartige amtliche Stellungnahmen, die nicht mit Sprachregelung des Drahtberichts vom 30. Dezember 1982 übereinstimmen, tatsächlich in dieser Form abgegeben worden sind."

Ungewöhnlich schroff heißt es weiter: "Zum jetzigen Zeitpunkt sind deutsche Stellungnahmen dieser Art umso weniger angebracht, als sich aus Anlass der Auslieferung Barbies an Frankreich und der hiesigen Holocaust-Gedenkfeiern die amerikanische Öffentlichkeit von Neuem stark mit NS-Verbrechen beschäftigt." Wenige Monate zuvor war der ehemalige Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, aus seinem Zufluchtsland Bolivien nach Frankreich abgeschoben worden, wo ihn eine Anklage wegen Mordes erwartete.

Das Auswärtige Amt nahm sich Zeit mit der Antwort. Nach einer Woche ging dann ein Telegramm nach Washington: "Die im Bezugsfernschreiben gebrauchte Formulierung, Lipschis müsse in der Bundesrepublik Deutschland nicht mit strafrechtlicher Verfolgung wegen NS-Verbrechen rechnen, ist weder vom Leiter der Zentralstelle in Ludwigsburg noch vom Pressesprecher der Bundesjustizministeriums gebraucht worden."

Falsche Mitteilung an Israel

Offenbar stellte diese knappe Auskunft die Gesprächspartner der deutschen Diplomaten in Washington nicht zufrieden. Im folgenden Telegramm übermittelte die Botschaft das Angebot des OSI, die gesammelten Belastungsmaterialien "in Höhe von etwa zwei Meter" zur Verfügung zu stellen. Ein sachkundiger Beamter könne vor Ort die Akten durchsehen und Kopien anfertigen.

Tatsächlich reiste in der letzten Oktoberwoche 1983 der stellvertretende Leiter der Ludwigsburger Behörde, Alfred Streim, in die USA. Allerdings brachte er, wie die Zentralstelle jetzt abendblatt.de auf Anfrage bestätigte, keine Kopien mit aus den USA. Auch wurde nach seiner Rückkehr nie ein formelles Vorermittlungsverfahren gegen Lipschis eingeleitet, der inzwischen in dem schwäbischen Städtchen Aalen lebte. Auch das räumte ein Mitarbeiter der Zentralen Stelle nun ein.

Solche Klarheit ließ die Bundesregierung nach außen hin vermissen. So teilte das Auswärtige Amt noch im März 1986 der deutschen Botschaft in Tel Aviv mit: "Aufgrund eines deutschen Rechthilfeersuchens wurde den deutschen Ermittlungsbehörden von den USA umfangreiches Belastungsmaterial zur Verfügung gestellt. Die strafrechtliche Bewertung dieses Falles ist nach hiesiger Aktenlage noch nicht abgeschlossen." Das war offenkundig falsch, wie sich jetzt zeigt.

War Auswärtiges Amt tatsächlich nicht informiert?

Über den Grund kann man nur spekulieren. War das Auswärtige Amt tatsächlich nicht informiert, dass die Ludwigsburger Staatsanwälte noch nicht einmal Vorermittlungen aufgenommen hatten? Oder wusste man das, erweckte aber gegenüber internationalen Partnern einen anderen Eindruck?

In den deutschen Akten schlägt sich nicht eindeutig nieder. Gleichwohl hatten auf US-Seite in den 1980er-Jahren verschiedene Beteiligte den Eindruck, die Bundesrepublik "mauere" im Fall Lipschis. Sie tue weniger als möglich sei. Sagen lässt sich durchaus, dass die deutsche Seite seinerzeit die Aufklärung nicht mit Priorität betrieb.

Drei Jahrzehnte später hat sich das gründlich geändert. Jetzt ist das Vorermittlungsverfahren abgeschlossen und die Staatsanwaltschaft Stuttgart bereitet gegen Lipschis die Anklage vor. Parallel hat die zentrale Stelle weitere Untersuchungen eingeleitet. abendblatt.de sagte Efraim Zuroff, der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem: "Als ich von den Vorermittlungen gegen 50 ehemalige Aufseher des KZ Auschwitz in Deutschland hörte, habe ich angekündigt, mich mitten in Berlin hinzustellen und laut ,Halleluja' zu schreien, wenn nur fünf bis zehn von ihnen angeklagt werden. Heute sage ich: Ich bin auf dem Weg nach Berlin."

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