07. Mai 2013, 16:04 Uhr spiegel.de
Verhaftet nach 68 Jahren
Von Benjamin Schulz

Als SS-Mann soll Hans Lipschis im KZ Auschwitz-Birkenau gearbeitet haben, bei der Wachmannschaft und als Koch. Nun wurde der 93-Jährige verhaftet, ihm droht eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord. Der Fall zeigt, was sich bei der Verfolgung mutmaßlicher NS-Verbrecher verändert hat.

Stuttgart - Es scheint, als hole die Geschichte Hans Lipschis jetzt ein. Jahrzehnte lebte er unbehelligt von der deutschen Justiz, erst in den USA, dann in Baden-Württemberg. Nun, im Alter von 93 Jahren, ist Lipschis verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart bereitet eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord vor. In etwa zwei Monaten soll die fertige Anklageschrift vorliegen.

Lipschis sitzt in Untersuchungshaft, er soll von Herbst 1941 bis zur Auflösung des Lagers Anfang 1945 Morde im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau unterstützt haben. In dem KZ töteten die Nationalsozialisten mehr als eine Million Menschen, die meisten davon Juden.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum begrüßte die Verhaftung. Der Leiter der Einrichtung, Efraim Zuroff, sprach von einem positiven ersten Schritt. "Wir hoffen, dass es noch eine ganze Reihe erfolgreicher juristischer Schritte der deutschen Behörden gegen KZ-Personal und Mitglieder der Einsatzgruppen geben wird." Das Zentrum hatte Lipschis Anfang April auf die Liste der zehn meistgesuchten Nazi-Verbrecher gesetzt.

"Wir denken, dass Fluchtgefahr besteht", sagt Claudia Krauth, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Wegen Lipschis' Alters bestehe ein hoher Anreiz zu flüchten. "Er ist 93, hat bei einer Verurteilung eine hohe Strafe zu erwarten und muss damit rechnen, dass er nie wieder freikommt." Zudem habe Lipschis Kontakte ins Ausland - in die USA und ein weiteres außereuropäisches Land.

Von Chicago auf die Ostalb

Über Lipschis' Arbeit im Lager gibt es widersprüchliche Informationen. Er selbst sagte der "Welt am Sonntag", er habe in Auschwitz "die ganze Zeit" als Koch gearbeitet, für die Mannschaften, nicht für die Häftlinge. Bei Kriegsende sei er an der Ostfront gewesen. Das Morden in Auschwitz will er nicht miterlebt und nicht gesehen haben; er habe nur davon gehört.

Nach Informationen der "WamS" und der Nachrichtenagentur dpa stimmen Lipschis' Aussagen aber nur teilweise. Es war demnach Koch, aber nicht die ganze Zeit, sondern erst ab September 1943. Zuvor soll er dem Totenkopf-Sturmbann angehört haben, quasi der Wachmannschaft des KZ.

Lipschis, am 7. November 1919 in Litauen als Anastas Lipsys geboren, kam im Herbst 1941 zur SS und nach Auschwitz, zwei Jahre später erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft. Nach dem Krieg verlieren sich Lipschis' Spuren; er heiratete laut "WamS" nach eigener Aussage eine Frau aus seiner Heimat Litauen. Sie starb 2007.

Sicher ist, dass das Paar 1956 in die USA auswanderte. Lipschis ging nach Chicago. Dort arbeitete er offenbar bei der Gitarrenfirma Harmony. Nach mehr als einem Vierteljahrhundert musste er das Land verlassen: 1982 wurde er ausgewiesen, weil er bei der Einreise seine SS-Vergangenheit verschwiegen hatte. Lipschis kehrte nach Deutschland zurück, in die süddeutsche Provinz nach Aalen auf der Ostalb. Dort lebte er ab 1983, den Behörden war sein Wohnort schon lange bekannt.

Ermittler prüften Fall Lipschis bereits in den achtziger Jahren

Jetzt - 68 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz - haben ihn Ermittler des Landeskriminalamts Baden-Württemberg im Auftrag der Stuttgarter Staatsanwälte verhaftet. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hatte nach dem Bekanntwerden von Akten in den USA Vorermittlungen aufgenommen und die Unterlagen im Oktober 2012 der Stuttgarter Staatsanwaltschaft übergeben.

Lipschis steht auch auf einer Liste der Zentralen Stelle mit den Namen von etwa 50 ehemaligen KZ-Aufsehern aus Auschwitz. "Dass es jetzt zum Verfahren Lipschis kommt, hat mit der Liste aber nichts zu tun, das ist Zufall", sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle.

Die Ludwigsburger Ermittler hatten Lipschis bereits überprüft, als er in den achtziger Jahren nach Deutschland zurückkam. "Nach damaligem Rechtsverständnis kam man zum Ergebnis, dass es nicht für ein Verfahren reicht", sagt Schrimm.

Dass Lipschis nun doch verhaftet wurde, zeigt, dass sich unter Juristen allmählich eine neue Sichtweise durchsetzt, die die Zentrale Stelle unterstützt: Demnach ist es nicht mehr notwendig, dass Tätern bei Nazi-Verbrechen Einzeltaten nachgewiesen werden, wie es über viele Jahre juristische Praxis war.

Wer mitmacht, macht sich mitschuldig

Stattdessen gilt nun - grob gesagt - die neue Linie: Wer mitmacht, macht sich mitschuldig. Dies lässt das Argument von Tätern ins Leere laufen, man habe ja selbst niemanden getötet, sondern nur Befehle befolgt und bei Nichtgehorchen um das eigene Leben fürchten müssen. Denn viele Jahrzehnte nach Kriegsende ist es oft nahezu unmöglich, eine konkrete Tat nachzuweisen, so auch im Fall Lipschis.

Diese neue Sichtweise hatte sich erstmals im Verfahren gegen den früheren KZ-Aufseher John Demjanjuk durchgesetzt. Für das Landgericht München reichte eine Tätigkeit in einem Vernichtungslager aus, um ihn schuldig zu sprechen - eine deutliche Abkehr von der früheren Spruchpraxis. Der Ukrainer wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, legte Revision ein. Darüber hatte der Bundesgerichtshof noch nicht entschieden, als er Mitte März 2012 in einem Pflegeheim starb.

Und genau darin liegt ein Problem: Das Münchner Urteil wurde nie rechtskräftig. Die neue Rechtsauffassung, geprägt vom Landgericht München, war für reine Vernichtungslager wie Sobibor ausgelegt, wo Demjanjuk Dienst tat. Auschwitz war dagegen nicht nur Vernichtungs-, sondern auch Arbeitslager.

Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit, wie Staatsanwältin Krauth sagt. Sobibor war im Vergleich zu Auschwitz ein kleines Lager. Damit sei die Aussage ehemaliger KZ-Aufseher, man habe im Lager von den Morden nichts bemerkt, im Fall von Auschwitz schwieriger zu widerlegen als bei Sobibor. "Und deswegen wird in der Anklage auch mehr drinstehen als nur: Wir wissen, dass Lipschis in Auschwitz war", sagt Krauth.

Letztlich, sagt Schrimm von der Zentralen Stelle, müssten die Gerichte klären, ob "die Grundsätze, die für Vernichtungslager entwickelt wurden, auch für Arbeitslager gelten". Er sei der Überzeugung, dass dies im Fall Lipschis der Fall sei. Solange es allerdings kein höchstrichterliches Urteil zu dieser Frage gebe, "arbeiten wir unter dem Damoklesschwert. Wenn der Bundesgerichtshof das anders sieht, war unsere Arbeit umsonst."

Mit Material von dpa

spiegel.de