09. Mai 2013 09:10 Uhr augsburger-allgemeine.de
Nazi-Verbrecher schützt ihr Alter nicht
Von Simon Kaminski

Über Monate das gleiche Bild: In einem Rollstuhl wird der mutmaßlicheNS-Verbrecher John Demjanjukin den Verhandlungssaal des Münchner Landgerichtes gerollt. Dort verharrt der frühere Aufseher im KZ Sobibor über Stunden mit geschlossenen Augen ohne jede Regung. Es gab viele Beobachter, die Demjanjuk, der im März 2012 starb, für einen Simulanten hielten. Dennoch war der Zustand des Angeklagten auch ein Symbol für den vermeintlich letzten großen Prozess gegen einen Nazi-Verbrecher – so wurde das Verfahren in den Medien immer wieder bezeichnet.

93-jähriger KZ-Aufseher wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht

Eine voreilige Einschätzung, wie sich jetzt zeigt: Am Montag wurde derfrühere KZ-Aufseher Hans Lipschis in Aalen verhaftet. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft wirft dem 93-Jährigen vor, zwischen 1941 und 1945 im Konzentrationslager Auschwitz Morde unterstützt zu haben. An der Anklage wegen Beihilfe zum Mord wird gearbeitet.

Für das Zustandekommen des Verfahrens spielt das Urteil vom Mai 2011 gegen Demjanjuk eine wichtige Rolle. Denn der gebürtige Ukrainer wurde verurteilt, obwohl es nicht gelang, ihm nachzuweisen, dass er persönlich in einen Mordfall in Sobibor verwickelt gewesen ist. Für die Münchner Richter war es letztlich ausreichend, dass Demjanjuk als Aufseher „Teil der Tötungsmaschinerie“ gewesen sei, um ihn wegen Beihilfe zum Mord in über 20 000 Fällen zu fünf Jahren Haft zu verurteilen. Ein Urteil, das eine Abkehr von dem Rechtsgrundsatz darstellte, dass eine individuelle Schuld bewiesen werden muss. Ein Grundsatz, der bei ähnlich gelagerten Fällen zuvor stets herangezogen wurde. Während unter Juristen bis heute darüber gestritten wird, ob diese neue Rechtsauffassung tatsächlich Bestand haben wird, erkannten die Ermittlungsbehörden, welche neuen Möglichkeiten ihnen das Münchner Urteil in die Hände gelegt hat.

50 mutmaßliche Ausschwitz KZ-Aufseher müssen sich vor Gericht verantworten

Für den Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Kurt Schrimm, reicht nun „jede Tätigkeit in einem KZ aus, um wegen der Beihilfe zum Mord zu verurteilen“ – selbst wenn unter anderem aus Mangel an Zeugen keine direkte Tatbeteiligung mehr nachgewiesen werden könne. Das hat Folgen: Vieles spricht dafür, dass eine Welle von Prozessen gegen KZ-Aufseher auf die Gerichte zukommt. Schrimm schätzt, dass sich möglicherweise 50 mutmaßliche KZ-Aufseher aus den Vernichtungslagern Auschwitz und Auschwitz-Birkenau noch in diesem Jahr vor Gericht verantworten müssen – gesetzt den Fall, sie sind verhandlungsfähig. Die Vorermittlungen laufen bereits.

Auch wenn diese Wendung rund 70 Jahre nach den NS-Verbrechen für die meisten Opfer zu spät kommt, begrüßte das Wiesenthal-Zentrum in Israel die Festnahme Lipschis, der nach Angaben der internationalen Organisation auf Platz vier der Liste der zehn meistgesuchten Nazi-Verbrecher steht. Der Leiter der Einrichtung, Efraim Zuroff, sprach von einem positiven ersten Schritt. „Wir hoffen, dass es noch eine ganze Reihe erfolgreicher juristischer Schritte der deutschen Behörden gegen KZ-Personal und Mitglieder der Einsatzgruppen geben wird“, sagte er.(mit epd)

augsburger-allgemeine.de