12.05.13 welt.de
Teil der Mordmaschine
Von Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller

Die Festung Hohenasperg gehört zu Deutschlands bekanntesten Gefängnissen. Jetzt sitzt dort im Haftkrankenhaus Hans Lipschis ein. Nur 80 Kilometer entfernt von seinem Wohnort, dem schwäbischen Städtchen Aalen. Am Montag hat die Stuttgarter Staatsanwaltschaft den gebürtigen Litauer festnehmen lassen. Der heute 93-Jährige war Wachmann im Vernichtungslager Auschwitz.

Der Grund für die Festnahme: Fluchtgefahr. Lipschis habe, so die Staatsanwaltschaft, neben einer Tochter in den USA  auch noch Kontakte in ein "anderes außereuropäisches Land". Er soll wegen Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Zwar sei davon auszugehen, dass der Beschuldigte nicht selbst getötet habe, aber "mit seinen Handlungen dort die Täter unterstützte".

Die "Welt am Sonntag" hatte den Fall am 21. April öffentlich gemacht. Hans Lipschis, der 1941 als "Volksdeutscher" zur Waffen-SS eingezogen und ins KZ versetzt worden war, sagte einem Reporter dieser Zeitung, er habe zu den KZ-Mannschaften gehört. Er besteht jedoch darauf, nur Koch gewesen zu sein.

Akten, die diese Zeitung in verschiedenen Archiven im In- und Ausland aufspürte, zeigen jedoch, dass Lipschis erst am September 1943 "auf Probe" in die Kantine der SS abkommandiert worden war. In den 22 Monaten zuvor zählte er zum Wachpersonal des Lagers Birkenau. Allein in dieser Zeit waren hier mehrere Hunderttausend Menschen ermordet worden, vorwiegend Juden.

Die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg bestätigte jetzt einen Bericht der "Welt", demzufolge 1983 kein Vorermittlungsverfahren gegen Hans Lipschis eingeleitet worden ist. Der deutsche Staatsbürger hatte seit 1956 in den USA gelebt, aber nie einen amerikanischen Pass bekommen. Als seine Tätigkeit in Auschwitz bekannt wurde, wiesen die US-Behörden den Rentner in die Bundesrepublik aus. Die Ermittler warfen ihm vor, er habe persönlich an der Verfolgung von Zivilisten teilgenommen.

Wenige Monate später sichtete der damalige stellvertretende Leiter der Zentralen Stelle, Alfred Streim, in den USA das gesammelte Belastungsmaterial. Es soll sich um gut zwei Meter Akten gehandelt haben. Einem Vermerk zufolge nahm er seinerzeit jedoch keine Kopien mit nach Deutschland . Der überaus engagierte Verfolger von NS-Verbrechern sah offenkundig nach seinerzeitiger Rechtsprechung keine Chancen auf ein Strafverfahren.

Das änderte sich im Mai 2011 mit dem Urteil gegen einen ukrainischen Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor. "Die Rechtsprechung im Fall des KZ-Aufsehers John Demjanjuk hat uns veranlasst, im Fall Lipschis neue Ermittlungen anzustellen", sagte der gegenwärtige Chef der Zentralen Stelle, Kurt Schrimm. Bis zu diesem Fall habe bei NS-Delikten nur der Nachweis einer Individualschuld zu einer Verurteilung führen können.

Trotz der veränderten Rechtslage gilt der Fall Lipschis als komplizierter als das Verfahren gegen Demjanjuk. Denn Sobibor war eine reine Mordfabrik der Nazis; hier gab es außer Baracken für die Häftlinge des Hilfskommandos keine Unterbringungsmöglichkeiten für Gefangene. Birkenau jedoch war sowohl Vernichtungs- als auch Zwangsarbeitslager.

Zwar ist ausgeschlossen, dass Lipschis von den Untaten nur "gehört, aber nichts gesehen" habe, wie er im Gespräch behauptete. Andererseits ist Mitwisserschaft allein nicht strafbar, auch nicht bei einem Menschheitsverbrechen wie dem Holocaust. Ein Experte, der schon in anderen NS-Prozessen als Gutachter tätig war, glaubt dennoch, dass eine sorgfältig formulierte Anklage zu einer Verurteilung führen kann. "Wer als Wachmann und SS-Mannschaftskoch in Auschwitz tätig war, hat auf jeden Fall die Mordmaschinerie am Laufen gehalten. Nach dem Demjanjuk-Urteil sollte das für einen Schuldspruch wegen Beihilfe zum Mord reichen."

Unklar ist, wie zuverlässig Zeugenaussagen sind, über die eine Hamburger Illustrierte berichtet. Demzufolge sollen zwei frühere Auschwitz-Häftlinge das Gesicht des KZ-Wächters wiedererkannt und ihn schwer belastet haben. Allerdings liegen derartige Unterlagen in der Zentralen Stelle in Ludwigsburg nicht vor, wie die "Welt am Sonntag" erfuhr.

Zudem zeigt die Erfahrung mit dem ersten Demjanjuk-Verfahren inIsrael  zwischen 1987 und 1993, dass Zeugen sich nach mehreren Jahrzehnten oft nicht richtig erinnern. Damals hatten fünf Überlebende des Vernichtungslagers Treblinka Demjanjuk vermeintlich "zweifelsfrei" als "Iwan den Schrecklichen" identifiziert, den Maschinisten der Gaskammern. Der Angeklagte wurde daraufhin zum Tode verurteilt. 1991 tauchten Unterlagen auf, denen zufolge "Iwan" in Wirklichkeit Martschenko hieß. Die Augenzeugen hatten sich geirrt.

Historiker erwarten, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart ihre Anklage vornehmlich auf unbestreitbar echte Dokumente aus Lipschis' Zeit in Auschwitz stützen wird. Die "Welt" hat mehrfach über solche Unterlagen berichtet. Dazu gehören eine Karteikarte aus der Personalverwaltung des KZs, die seine Zuordnung zu der Wachmannschaft in Birkenau für die Zeit von Ende 1941 bis Sommer 1943 belegt.

In den National Archives in den USA entdeckten Rechercheure Befehle und Listen der SS-Kommandantur, denen zufolge Lipschis Ende August 1944 und zum Stichdatum 1.Januar 1945 immer noch zur Stabskompanie des Lagers gehörte, vermutlich als Koch. Papiere aus dem Bundesarchiv Berlin  bestätigen die Zuverlässigkeit dieser Unterlagen. Dagegen belegen bisher keine Papiere, dass Lipschis an einer der Evakuierungen, den sogenannten Todesmärschen, beteiligt war. Jedenfalls hielt er sich einen Monat nach Räumung von Auschwitz in Oberbayern  auf, in der Nähe eines großen Außenlagers des KZs Dachau.

Inzwischen beschleunigen mehrere Staatsanwaltschaften ihre Bemühungen, Verfahren gegen weitere frühere KZ-Wachen voranzubringen. So sollen in Niedersachsen Vorwürfe gegen vier Personen mit Vorrang geprüft werden. Sie stehen dem Vernehmen nach auf einer Liste mit rund 50 Namen, auf der die Ludwigsburger Vorermittler festgehalten haben, wie viele ehemalige KZ-Wachen aus Auschwitz überhaupt noch leben.

Von den insgesamt bis zu 7200 Mann SS-Personal im größten Vernichtungslager haben ungefähr 6000 den Krieg überlebt – doch nur rund 800 von ihnen wurden seither angeklagt und verurteilt. Der Chef des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem , Efraim Zuroff, der sich selbst "Chief Nazi Hunter" nennt, sagt: "Fünf Schuldsprüche wären schon ein Erfolg."

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