19.05.13 welt.de
KZ-Wächter Lipschis stand an der Rampe des Todes
Von Sven Felix Kellerhoff und Uwe Müller

Achim Bächle gilt als Spezialist für schwere Fälle. Der Stuttgarter Rechtsanwalt hat die Eltern des Amokschützen Tim K. aus Winnenden und die RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt verteidigt. In seinem heikelsten Verfahren stand er dem SS-Oberscharführer Josef Schwammberger bei: Der Kommandant mehrerer deutscher Zwangsarbeitslager im Distrikt Krakau wurde 1992 vom Landgericht Stuttgart wegen Mordes und Beihilfe zum Mord an 650 Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt. "Damals haben alle Zeitungen geschrieben, das sei das letzte große NS-Verfahren", erinnert sich sein Verteidiger.

Ein Irrtum. Bächle, Jahrgang 1951, hat jetzt erneut ein Mandat in einem ähnlichen Verfahren, das schon vor dem Prozessauftakt für weltweites Aufsehen sorgt. Der Schwabe ist Wahlpflichtverteidiger des einstigen SS-Rottenführers Hans Lipschis. Der frühere Wächter im KZ Auschwitz sitzt seit zwei Wochen im Haftkrankenhaus Hohenasperg in Untersuchungshaft. Hier war einst auch Schwammberger untergebracht. Und wieder ist die Stuttgarter Schwurgerichtskammer zuständig.

Über die Verstrickung des heute 93 Jahre alten Lipschis hatte die "Welt am Sonntag" exklusiv am 21. April berichtet. Kurz vor seiner Festnahme sagte der gebürtige Litauer einem Reporter dieser Zeitung, er habe in Auschwitz "nur als Koch" gearbeitet. Vom barbarischen Geschehen in der größten Mordfabrik der Menschheitsgeschichte habe er lediglich aus Gesprächen mit Kameraden erfahren. Diese Darstellung allerdings hatte die "Welt am Sonntag" nach Recherchen in mehreren in- und ausländischen Archiven als Legende entlarvt.

Beteiligt an abscheulichen "Selektionen"

Das bestätigt nun auch der Haftbefehl gegen Hans Lipschis; die zehn Seiten umfassende Anordnung des Amtsgerichts Stuttgart vom 2. Mai liegt dieser Redaktion vor. Sie zeigt, was die Strafverfolger dem Beschuldigten genau vorwerfen: Beihilfe zum Mord in 9515 Fällen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ist ebenfalls davon überzeugt, dass Lipschis in Auschwitz nicht nur in der Küche eingesetzt war, sondern mutmaßlich auch an der berüchtigten Rampe.

Dort wurden die in Eisenbahnwaggons ankommenden Häftlinge selektiert: Wer dem äußeren Anschein nach zu alt oder zu jung, zu schwach oder zu krank für Zwangsarbeit war, wurde sofort in die Gaskammer geschickt.

Als die Züge ins Lager rollten, stand Lipschis' Einheit laut Haftbefehl mindestens neun Mal an der Rampe. Jedenfalls hatte der Beschuldigte laut den Ermittlungen "zumindest Wachbereitschaft". Beispielsweise, als in Auschwitz ein Gefangenentransport aus dem holländischen Westerborg eintraf und 796 Häftlinge umgehend ermordet wurden. Bei Transporten aus dem KZ Theresienstadt (1773 Morde), aus Berlin (200 Morde) und dem französischen Drancy (1090 Morde) soll Lipschis ebenfalls an den abscheulichen Selektionen beteiligt gewesen sein.

Insgesamt mindestens 9515 zerstörte Leben – eine schier unvorstellbare Zahl und doch nicht einmal ein Prozent aller Opfer des größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers. Auch wenn das zynisch klingt: Für einen eventuellen Schuldspruch spielt die Zahl der Toten eine untergeordnete Rolle. Für Mord gibt es unabhängig davon "lebenslänglich", für Beihilfe zum Mord mehrjährige Haftstrafen – aber addiert werden einzelne Strafen nicht.

Selbst als Koch machte sich Lipschis schuldig

Lipschis war nachweislich von Oktober 1941 bis Januar 1945 in Auschwitz; die ersten 23 Monate als Aufseher, anschließend 16 Monate lang in der Küche für das SS-Personal. Selbst als Koch hat er sich aus Sicht der Strafverfolger schuldig gemacht, weil er auch in dieser Funktion objektiv das "Lagergeschehen insgesamt" gefördert habe. Im Haftbefehl heißt es dazu: Durch seine gesamte Tätigkeit habe er den Lagerbetrieb und damit das dortige Tötungsgeschehen unterstützt. Hungrige Massenmörder morden eben weniger effizient.

9515-facher gewaltsamer Tod: Das ist für alle Beteiligten an diesem Verfahren eine Herausforderung – den Verteidiger Bächle eingeschlossen. "In derartigen Verfahren muss man sehr sorgfältig und ruhig verteidigen. Dabei werde ich auch sensibel mit der Presse umgehen", sagte er der "Welt am Sonntag".

Der Anwalt weiß, dass ein Verteidiger in einem so bedeutsamen, international beachteten Verfahren leicht ins Zwielicht geraten kann, wenn er vehement die Interessen seines Mandanten wahrnimmt. Schnell kommt dann der Eindruck einer tatsächlichen oder vermeintlichen Nähe zum Beschuldigten auf. Bächle betont deshalb fast staatstragend: "In einem solchen Prozess repräsentiere ich als Anwalt auch den deutschen Rechtsstaat."

Bächle, dem die Ermittlungsakten bislang noch nicht vorliegen, konnte am Donnerstag dieser Woche erstmals seinen Mandanten im Haftkrankenhaus besuchen. Mit ihm sprach er zwei Stunden lang über die Tatvorwürfe. Dabei hatte er sich von einer Dolmetscherin begleiten lassen. Zwar hat Lipschis als "Volksdeutscher" bereits 1943 einen deutschen Pass erhalten, doch zu Hause fühlt er sich noch immer in der litauischen Sprache.

Mit der Anklage rechnet Bächle nicht vor August; der Prozess könne dann vielleicht im Herbst beginnen. Das entspräche der Gesetzeslage, denn in der Regel soll eine Hauptverhandlung innerhalb von sechs Monaten nach der Inhaftierung des Beschuldigten beginnen. "Ob mein Mandant dann noch verhandlungsfähig ist, bleibt offen", sagt Bächle.

Ist das Verfahren gegen einen Greis überhaupt sinnvoll

Falls es zum Prozess kommt, stellen sich viele Fragen: Kann man einen Mann, der zum Tatzeitpunkt Anfang 20 war, strafrechtlich für vieltausendfachen Mord verantwortlich machen? Ist es überhaupt sinnvoll, mehr als 68 Jahre nach der Befreiung des Todeslagers noch ein solches Verfahren gegen einen Greis zu führen?

Ohne Zweifel war Hans Lipschis nur ein Mitläufer, das letzte Glied am Ende der Befehlskette. Aber die NS-Vernichtungsmaschinerie hätte ohne die vielen kleinen Rädchen nicht funktionieren können. Seit das Landgericht München im Mai 2011 John Demjanjuk, den ukrainischen Wachmann im deutschen Vernichtungslager Sobibor, wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen verurteilt hat, reicht bereits die nachweisliche Anwesenheit in einem nationalsozialistischen Vernichtungslager für einen Schuldspruch. Selbst wenn dem Angeklagten keine konkreten strafbewehrten Taten nachgewiesen werden können.

Doch Auschwitz war eben nicht nur Vernichtungs-, sondern auch Zwangsarbeitslager. Das Geschehen dort ist aus strafrechtlicher Sicht komplizierter als in Sobibor. Um Lipschis dennoch eine Beihilfe zum Massenmord juristisch relevant nachweisen zu können, konzentriert sich die Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf einige wenige Deportationen und Massenvergasungen.

Noch schwieriger ist wohl die Frage nach dem höheren Sinn eines solchen Verfahrens. Denn die üblichen Erklärungen für die Verhängung einer Strafe greifen bei einem über 90-Jährigen nicht mehr – er braucht nicht mehr von einer möglichen Wiederholung seiner Taten abgeschreckt zu werden; und sühnen kann er nach einem ganzen Menschenleben seine Rolle als SS-Mann auch nicht mehr wirklich.

Ermittelnder Ankläger reiste nach Auschwitz

Sein Verteidiger macht es sich durchaus nicht leicht. Einerseits stellt Bächle fest: "Hans Lipschis ist ein alter Mann, der seit dem Kriegsende geordnet gelebt und niemand etwas zuleide getan hat. Da stellt sich schon die Frage: Was soll nach so langer Zeit eine Anklage?" Andererseits räumt er ein: "Ein Gutes hat so ein Verfahren auch. Von ihm geht eine Botschaft aus: ,Wehret den Anfängen!' Die Gesellschaft muss zeigen, dass sie alles tut, damit sich so etwas nicht wiederholt."

Leicht gemacht hat es sich die Staatsanwaltschaft Stuttgart ebenfalls nicht. Nach Informationen der "Welt am Sonntag" war der ermittelnde Ankläger Mitte Januar in Auschwitz, um sich vom Tatort ein Bild zu machen – obwohl der Massenmord dort nach mehreren großen Prozessen aktenkundig ist und zahlreiche Studien dokumentieren, wie die Menschenvernichtung in Birkenau ablief.

Trotzdem werden diese Verbrechen im kommenden Prozess gegen Hans Lipschis noch einmal eine zentrale Rolle spielen. Denn bevor ein Beschuldigter wegen Beihilfe zu einer Straftat verurteilt werden kann, muss zuerst die Haupttat selbst gerichtsfest nachgewiesen werden – auch wenn die Haupttäter schon lange nicht mehr leben.

Wahrscheinlich werden sich Anklage, Verteidigung und Gericht noch mit einer weiteren Frage auseinandersetzen müssen: Warum hat es so lange gedauert, bis die Handlanger des Holocaust in den Blick der deutschen Justiz gerieten? Warum geht insbesondere die Zentrale Stelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg erst jetzt gegen die letzten mutmaßlichen Täter von Auschwitz vor? Warum haben die dortigen Staatsanwälte nicht schon viel früher Vorermittlungen eingeleitet, gegen Lipschis etwa nach seiner Abschiebung aus den USA, wo er von 1956 bis 1983 gelebt hatte?

Neuer Anfang nach dem Demjanjuk-Urteil

Natürlich wird Achim Bächle hier ansetzen: "Das Vorgehen der Zentralen Stelle überzeugt mich nicht. Warum werden diese Fälle erst jetzt aufgegriffen? Wenn man der Auffassung ist, es komme nicht auf den Nachweis einer konkreten Tathandlung an, hätte man viel früher handeln und gegebenenfalls anklagen müssen." Jedenfalls hätte man aus Sicht des Verteidigers nicht abwarten dürfen, bis ein Gericht den Fall John Demjanjuk entschieden hatte.

"Diese Meinung kann man vertreten", gibt Thomas Will zu. Der stellvertretende Leiter der Zentralen Stelle sagt: "Wir haben uns anders entschieden und nach dem Demjanjuk-Urteil begonnen." Das sei ein neuer Anfang. "Wir haben uns von einer Fessel befreit, die wir selbst nicht mehr gespürt hatten", meint Will selbstkritisch. Noch zeichne sich nicht ab, was die Gerichte und auch die Gesellschaft von solchen Verfahren halte.

Unabhängig davon will die Zentrale Stelle in den nächsten drei Monaten Vorprüfungen gegen 49 weitere ehemalige KZ-Wächter in Auschwitz abschließen und die Fälle an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgeben.

Doch dabei soll es nicht bleiben, sagt Will: "Unsere Vorermittlungen konzentrieren sich nicht nur allein auf die KZ-Wärter in Auschwitz, sondern auch auf die Aufseher anderer Konzentrationslager, die zumindest zeitweise zur Vernichtung dienten." Um wie viele Beschuldigte es geht, verrät Will nicht: "Für konkrete Zahlen ist es, auch weil die Beweis- und Rechtslage teilweise schwieriger ist, noch zu früh."

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