23.05.13 welt.de
"Er war ein Mörder. Er war ein Killer"
Von Florian Flade und Martin Lengemann

"Sein voller Name ist Hans Lipsky. Er ist ein Lette. Lettischer Staatsbürger. Er war ein SS-Aufseher in Auschwitz. Er arbeitete an den Eisenbahngleisen, wo die Transporte ankamen", erinnert sich Miso Vogel. "Er war ein Mörder. Er war ein Killer." Lipsky sei kein Offizier, sondern ein einfacher Aufseher gewesen, sagt Vogel. "Ein Mörder wie die meisten von denen."

Die Sätze stammen aus dem Jahr 1989. Der Mann, der sie gesagt hat, hat den Holocaust überlebt. Zwei Jahre war Miso Vogel, geboren im slowakischen Jacovce, ein Häftling im Konzentrationslager Auschwitz. Seine Eltern starben in den Gaskammern der Nazis. Miso Vogel überlebte. Und berichtete in mehreren Interviews, Vorträgen und Dokumentarfilmen über seine Erlebnisse.

Als die Transporte in Auschwitz ankamen, habe er zusammen mit den anderen Gefangenen die Kinder aus den Waggons gehoben, erzählte Vogel. Daneben hätten SS-Aufseher gestanden, darunter auch jener Hans Lipsky. "Ich erinnere mich an einen der Jungs, der ein kleines Kind hielt, ein kleines Baby, und er nimmt seine Pistole raus und erschießt das Baby in den Händen des Gefangenen."

War Lipsky in Wirklichkeit Lipschis?

Ein SS-Wachmann namens Hans Lipsky aus Lettland? Meinte Miso Vogel womöglich Hans Lipschis aus Litauen? Jenen Mann, der vor zwei Wochen in Deutschland verhaftet wurde, weil die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen ihn wegen Beihilfe zum Mord mehr als 9000 Fällen ermittelt?

Im April machten sich Reporter der "Welt am Sonntag" auf die Suche nach Hans Lipschis, einem gebürtigen Litauer, der jahrelang in Auschwitz als SS-Wachmann gedient hat. Das Simon-Wiesenthal Center hatte Lipschis neu auf eine Liste der zehn meistgesuchten Nazi-Verbrecher gesetzt. In Deutschland ermittelt seit einiger Zeit die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg gegen den heute 93-jährigen.

Die Reporter konnte Lipschis vor seiner Verhaftung im baden-württembergischen Aalen ausfindig machen. Lipschis gab im persönlichen Gespräch zu, in Auschwitz gewesen zu sein. "Ich war nur Koch", sagte er.

Seine Lebensgeschichte rekonstruieren

Aus historischen Dokumenten, aus den Archiven der Justiz und in Auschwitz lässt sich Lipschis Lebensgeschichte überraschend umfangreich rekonstruieren. Wie aus dem Litauer Antanas Lipsys das SS-Mitglied Hans Lipschis wurde. Wie er in die USA immigrierte, seine Auschwitz-Vergangenheit verschwieg und Jahrzehnte unbehelligt in Chicago lebte, bis er 1983 aufgrund neuer Ermittlungen der US-Justiz nach Deutschland abgeschoben werden sollte, schließlich freiwillig das Land verließ. Als erster Nazi-Scherge überhaupt.

Unklar aber ist bis heute, was genau Hans Lipschis in Auschwitz-Birkenau getan hat. Es ist kein Foto aus seiner Zeit als SS-Wachmann bekannt. Entschied er als Wachmann, der seinen Dienst an der Rampe verrichtete, möglicherweise sogar über Leben und Tod von Häftlingen? Wie sehr war der heutige 93-jährige eingebunden in die Todesmaschinerie von Auschwitz?

Einzig Zeitzeugen könnten Auskunft darüber geben, wie Lipschis agiert hat, als er noch die schwarze Uniform der SS-Totenkopfdivision trug. Die "Welt" machte sich also auf die Suche nach Überlebenden der Hölle von Auschwitz-Birkenau. Eine Recherche, die viel Überraschendes zu Tage fördert. Die aber auch zeigt, dass die Zeit womöglich wichtigster Helfer von Kriegsverbrechern ist.

Zynische Verbiegung der Wahrheit

Bei den Recherchen stieß die "Welt" auf Miso Vogel. Der slowakische Jude war vom Mai 1942 bis Oktober 1944 im Konzentrationslager Auschwitz. Er erlebte die Brutalität der SS-Wachmänner. Und berichtete in den vergangenen Jahrzehnten über seine Zeit während des Holocausts. Ein besonders schockierendes Dokument, ist jenes Video, das auf der Webseite des "United States Holocaust Memorial Museum" zu finden ist, und in dem Vogel von der Kindserschießung durch den SS-Mann "Hans Lipsky" berichtet.

Wenn die Zeugenaussage wahr ist, dann lässt sie den Fall Lipschis in einem ganz anderen Licht erscheinen. Das "Ich war nur Koch" des alten Mannes wäre eine geradezu zynische Verbiegung der Wahrheit. Wie aber lässt sich belegen, ob die Anschuldigungen von Vogel wahr sind?

Alle Erzählungen von Miso Vogel stammen aus einer Zeit vor dem Internet. Die Spuren die sich im Netz zu ihm finden sind daher nur spärlich. Und anfangs schwebt über allem die Frage: Lebt Miso Vogel noch? Er wäre heute älter als 80 Jahre. Und falls ja, wo könnte er leben?

Erste Recherchen ergeben: Miso "Michael" Vogel immigrierte in die USA und lebte einst in der Nähe von Indianapolis. Im Telefonbuch der Stadt finden sich mehrere Einträge zu "Michael Vogel". Doch keiner ist der Auschwitz-Überlebende.

Familie ausfindig gemacht

Nach einigen Tagen gelingt es den Reportern, die Familie von Miso Vogel ausfindig zu machen. Der erste Kontakt ist eine 89-jährige Frau. Sie ist die Witwe von Miso Vogel. Die Dame, eine ungarische Jüdin, ist heute 89 Jahre alt, lebt in Indianapolis und ist ebenfalls eine Holocaust-Überlebende. Sie war in einem Arbeitslager in Österreich, immigrierte nach dem Krieg in die USA und lernte dort ihren späteren Ehemann kennen. Eine Ehe zwischen Überlebenden der Nazi-Vernichtungslager. "Ja, Miso Vogel war mein Mann", bestätigt sie.

Am Telefon erzählt sie, ihr Mann sei im November 2000 verstorben. Es ist somit nicht mehr möglich, Miso Vogel zu seiner möglichen Begegnung mit Hans Lipschis zu befragen. Überhaupt gestaltet sich das Telefonat aufgrund des Alters der Witwe schwierig.

Dann reicht sie den Hörer weiter an ihren Sohn, Howard Vogel. "Das kann kein Zufall sein", sagt er überrascht. Ausgerechnet jetzt frage ein deutscher Reporter nach seinem Vater und dessen KZ-Vergangenheit. Gerade gestern habe er angefangen, die Video-Interviews seines Vaters über den Holocaust von VHS-Kassetten auf DVDs zu übertragen. "Ich habe mir extra eine Software dafür besorgt, damit ich seine Erzählungen digitalisieren kann", erzählt Vogel.

Ja, sein Vater habe viel von Auschwitz erzählt. Es sei ihm sehr wichtig gewesen, möglichst viele Erlebnisse festzuhalten, in Interviews, Büchern, einem Dokumentarfilm. "Zwei Dinge hat mein Vater geliebt", sagt Sohn Howard, "Fußball und von Auschwitz zu erzählen."

Vogels Aussagen zu Hans Lipschis

Das volle Transkript des nur in Teilen als Video veröffentlichten Interviews mit Miso Vogel aus dem Jahr 1989 liegt der "Welt" inzwischen vor. Es offenbart noch weitere Aussagen zu jenem SS-Mann "Hans Lipsky". Und nach der Lektüre des kompletten Interviews besteht kaum ein Zweifel: wenn Miso Vogel von "Hans Lipsky" erzählt, dann meint er Hans Lipschis.

Die erneute Konfrontation mit Lipschis fand allerdings schon sieben Jahre früher statt. Im Jahr 1982 sei er von einem Ermittler der "Office for Special Investigation" (OSI), einer Sondereinheit des Justizministeriums, kontaktiert worden, erzählt Vogel in dem Interview vor 31 Jahren. Der Beamte habe seinen Namen damals von einem anderen Auschwitz-Überlebenden genannt bekommen. Das Treffen habe am Flughafen von Indianapolis stattgefunden. "Er kam an einem Samstagnachmittag. Er checkte im Hotel ein und dann gingen wir auf sein Zimmer und er begann mit der Befragung", erzählte Vogel.

Der Beamte habe sich alles notiert, was Vogel ihm über Auschwitz erzählte. Zusätzlich zeichnete er das Gespräch mit einem Kassettenrecorder auf. Dann legte der Nazi-Jäger des OSI acht Fahndungsfotos vor. Vogel sollte mit dem Finger auf jene Person zeigen, die er wiedererkennt. "Ich schaute und legte meinen Finger auf das Foto mit der Nummer 3. Und ich sagte: Dies ist Ihr Mann." Danach sagte der Ermittler: "Der Name dieses Mannes ist Hans."

"Ein widerlicher SS-Mann"

Vogel sollte das Foto des SS-Mannes datieren und unterschreiben. "Nachdem ich mit dem Papierkram fertig war, sagte er zu mir: Sie haben Hans Lipsky identifiziert, dessen Fall in Chicago an den und dem Datum verhandelt werden soll."

Der stellvertretende Leiter der Zentralstelle in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Alfred Streim, besuchte am 25. Oktober 1983 das Archiv des OSI. Er erhielt Einsicht in die Akte Lipschis. Darin fand sich auch eine Aussage des Zeugen Miso Vogel. "Anlässlich seiner Vernehmung am 13. November 1982 identifizierte er auf der vorgelegten Lichtbildmappe Lipschis als einen Mann des Transport-Kommandos", heißt es in dem Bericht, den der deutsche Ermittler nach seinem Besuch in den USA anfertigte.

An den Namen des SS-Mannes erinnere sich Vogel nicht, notiert Streim aus den US-Akten. "Ihm war lediglich noch in Erinnerung, dass die abgebildete Person ein widerlicher SS-Mann war, der sich ständig Eigentum von Häftlingen angeeignet habe."

Kein Wort von der Erschießung eines Kindes.

Offene Fragen zu Vogels Aussagen

Miso Vogel hatte Hans Lipschis also offenbar im KZ Auschwitz gesehen. Wieso aber hat Vogel in einem Interview 1989 von der Erschießung eines Kindes durch den SS-Mann "Hans Lipsky" erzählt, nicht aber schon bei seiner Befragung durch US-Ermittler 1982? Hatte er schlichtweg vergessen zu berichten, dass der Mann, den die US-Behörden abschieben wollte, auch Kriegsverbrechen in Auschwitz begangen hatte? Oder erzählte Vogel gar damals schon von der Kindserschießung, die OSI-Beamten aber beachteten die Aussagen nicht, was schwer vorstellbar ist. Oder erzählte Vogel gar eine Tat, die jemand anderes, aber nicht Lipschis begangen hat?

Der deutsche Ermittler Streim ließ keine Niederschriften der Zeugenvernehmungen von Vogel anfertigen. Die Begründung des deutschen Beamten: "Ich wollte damit indirekt – aber deutlich – zum Ausdruck bringen, dass sich aus keinem Vorgang Erkenntnisse ergeben, die zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch die Verfolgungsbehörden in der Bundesrepublik gegen Lipschis wegen des Verdachts der Begehung von NS-Verbrechen führen könnten."

Ein amerikanischen Kollege, so schrieb der Ludwigsburger Ermittler damals, hätte ihm schon sofort nach der Begrüßung erklärt, "dass ich vermutlich kein belastendes Material bezüglich Lipschis in den Unterlagen des OSI finden würde, denn seine Dienststelle hätte für die Ausbürgerung nur beweisen müssen, dass er bei der Einwanderung seine SS-Vergangenheit verschwiegen habe."

Was sagt Eli Rosenbaum?

Die Spurensuche führt erneut in die USA: Eli Rosenbaum ist heute Leiter der OSI. Hans Lipschis war sein erster Fall. Zu Miso Vogels Aussagen über Lipschis Handlungen in Auschwitz will der Nazi-Jäger heute nichts sagen. "Ich darf mich nicht zu Dingen äußern, die nicht in einem Prozess in den USA verwendet wurden", sagt Rosenbaum der "Welt"

Die Aufgabe der US-Ermittler des OSI war es primär, den in die USA eingewanderten Nazis nachzuweisen, dass sie bei ihrer Einwanderung über ihre NS-Zeit gelogen hatten. War jemand Fußsoldat bei der Waffen-SS oder KZ-Aufseher? Hat die Person an Massakern teilgenommen oder war sie lediglich für Truppenversorgung zuständig? Nicht die Taten an sich waren dabei von Belang, sondern der Umstand, dass sie verschwiegen wurden. Rosenbaum fasst heute den Kern der Ermittlungsarbeit zusammen: "Wir mussten diesen Leuten die Lüge nachweisen."

Und was sagt Rosenbaum zu den Notizen der Kollegen aus Ludwigsburg? Immerhin heißt es in dem Bericht von Streim, die amerikanische Seite hätte von Anfang an erklärt, es gäbe nichts Belastbares gegen Lipschis. "Das hätten wir uns nie angemaßt. Dafür kennen wir das deutsche Rechtssystem nicht gut genug", entgegnet Rosenbaum.

Hätte sich das OSI überhaupt für explizite Verbrechen interessiert, die Hans Lipschis möglicherweise begangen hat? "Natürlich", sagt Rosenbaum, der sich von der Frage sichtlich angegriffen fühlt. "Unsere Ermittlungen zielten auch darauf ab, Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzuweisen."

Hält er Miso Vogel denn generell für einen vertrauenswürdigen Zeugen? "Ich habe ihn als sehr aufrichtigen Mann kennengelernt", so Amerikas oberster Nazi-Jäger.

Lipschis wird wohl schweigen

Vogel hatte schon sehr früh die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals eine Anklage gegen Hans Lipschis in Deutschland geben werde. Im Interview von 1989 erinnert er sich an eine Autofahrt zur Arbeit. Im Radio habe damals gehört, dass Hans Lipschis freiwillig die USA verlassen habe und nach Deutschland ausgereist sei. "Das war das letzte Mal, dass ich von Hans Lipsky gehört habe. Wahrscheinlich lebt er wie die Made im Speck in Westdeutschland."

Miso Vogel ist tot. Seine Aussagen über jenen "widerlichen SS-Mann", der in Auschwitz Häftlinge bestohlen haben, und sogar ein Kind erschossen haben soll, lassen sich wohl nicht mehr verifizieren.

Einzig Hans Lipschis selbst weiß, was er im Konzentrationslager getan hat, und was nicht. Er wird wohl schweigen. Wie schon in den vergangenen 70 Jahren. Oder er wird seine Version von Auschwitz erzählen. "Ich war nur Koch."

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