21. Mai 2013, 19:32 Uhr spiegel.de
Deutsche Justiz lehnt Wiederaufnahme der Ermittlungen ab
Von Felix Bohr

Das Massaker von Sant'Anna war eines der grausamsten deutschen Verbrechen in Italien im Zweiten Weltkrieg. Fünf Täter leben noch, doch die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat jetzt entschieden, dass die Ermittlungen nicht erneut aufgenommen werden sollen - aus Mangel an Beweisen.

Stuttgart - Die deutschen SS-Schergen zeigten keine Gnade. Schon während ihres Anstiegs zum kleinen toskanischen Bergdorf Sant'Anna di Stazzema töteten sie im Morgengrauen des 12. August 1944 zwei ältere Männer, wohl weil diese zu schwach waren, um als Träger nützlich zu sein. Einen italienischen Zivilisten, der versuchte, in gebrochenem Englisch zu vermitteln, erschossen die SS-Männer vor den Augen seiner Tochter. Gegen sieben Uhr erreichten sie das Örtchen Sant'Anna di Stazzema, wo sich vor allem Greise, Frauen und Kinder aufhielten.

Dort ermordeten die Deutschen bis zu 560 italienische Zivilisten, das Gemetzel dauerte bis zur Mittagszeit.

Als die Staatsanwaltschaft Stuttgart im vergangenen Oktober - nach zehn Jahre dauernden Ermittlungen - das Verfahren gegen acht noch in Deutschland lebende Täter einstellte, weil der individuelle Schuldnachweis nicht gelungen sei, war das Entsetzen in Italien groß. Der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano kritisierte die Entscheidung der Stuttgarter Strafverfolger.Bundespräsident Joachim Gauck reiste eigens nach Sant'Anna di Stazzema, wo er betonte, dass es "unser Empfinden für Gerechtigkeit tief" verletze, "wenn Täter nicht bestraft werden können, weil die Instrumente des Rechtsstaats das nicht zulassen". Dabei hatte ein italienisches Gericht einzelne Beschuldigte schon 2005 in Abwesenheit zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.

Hoffnung in Italien

Mitte April war in Italien jedoch Hoffnung aufgekeimt. Im Auftrag des letzten Überlebenden des deutschen Massakers, des 78-jährigen Enrico Pieri, der sich als Zehnjähriger in einer Mauernische vor den SS-Schergen versteckte, hatte der Kölner Historiker Carlo Gentile ein offizielles Gutachten angefertigt, in dem er den Stuttgarter Strafverfolgern schwere Fehler vorwarf - und die Wiederaufnahme der Ermittlungen forderte.

Wichtige Dokumente und Zeugenaussagen, so Gentile in seinem Gutachten, seien den Ermittlern entweder "überhaupt nicht bekannt" gewesen oder nicht hinzugezogen worden. Zudem habe die Staatsanwaltschaft "deutliche Fehler hinsichtlich der historischen Daten" gemacht und keine "Rücksicht auf die Topografie und auf den zeitlichen Ablauf" des Massakers genommen.

Doch am Dienstag hat die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart die Beschwerde Pieris zurückgewiesen: Die Überprüfung der "umfangreichen Ermittlungsakten" habe zwar ergeben, so die Strafverfolger, dass im Zuge des Massakers von Sant'Anna di Stazzema "fraglos auch Verbrechen des Mordes begangen" worden seien. Den "noch lebenden Beschuldigten" könne aber nach wie vor "nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden, ... selbst Verbrechen des Mordes begangen oder dazu eine noch verfolgbare Hilfe geleistet zu haben". Daher sei die "Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stuttgart" nicht zu beanstanden.

Selbst die Rechtskonstruktion, die das Landgericht München 2011 im Urteil gegen den niederen SS-Wärter aus dem Vernichtungslager SobiborJohn Demjanjuk, angewandt hatte, könne nicht greifen, erklären die Stuttgarter Strafverfolger. Demjanjuk war wegen Beihilfe zum Mord an über 28.000 Menschen verurteilt worden - obwohl ihm keine direkte Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte.

Der letzte Überlebende kann Beschwerde einlegen

Im Fall des Massakers von Sant'Anna di Stazzema, so die Generalstaatsanwaltschaft, habe indes nicht "mit der in strafrechtlicher Hinsicht erforderlichen Sicherheit festgestellt werden" können, dass es sich bei der grausamen Bluttat "um eine von vornherein geplante Vernichtungsaktion handelte". Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass "der Einsatz zunächst der Bekämpfung von Partisanen" gedient habe "und dass die Erschießung der Zivilbevölkerung erst befohlen wurde, nachdem klar war, dass das ursprüngliche Ziel nicht mehr erreicht werden konnte".

Der Experte Carlo Gentile äußert indes große Zweifel an dieser Auffassung: Einerseits habe es sich bei den ursprünglich acht Beschuldigten größtenteils um SS-Führer und -Unterführer gehandelt. Diese hätten bei den deutschen Massakern in Italien eine sehr wichtige Rolle gespielt, so Gentile: "Die SS-Männer wussten bereits vor dem Massaker in Sant'Anna di Stazzema von der brutalen 'Bandenbekämpfung' durch Einheiten der SS."

Andererseits sei zum Zeitpunkt der Bluttat schon nicht mehr zwischen unbeteiligter Zivilbevölkerung und Partisanen unterschieden worden. "Die Argumentation der Stuttgarter Generalstaatsanwaltschaft ist in historischer Perspektive wenig überzeugend", sagt der Wissenschaftler.

Der letzte Überlebende der deutschen Bluttat, Enrico Pieri, hat nun die Möglichkeit, gegen die Entscheidung der Stuttgarter Generalstaatsanwaltschaft erneut Beschwerde einzulegen. Dem einzigen überlebenden Opfer stehen fünf Täter gegenüber. Von den ursprünglich acht beschuldigten ehemaligen SS-Schergen sind in der Zwischenzeit drei gestorben.

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