Die Polizei und das Warschauer Ghetto
Ich sah […] wie drei völlig nackte Kinder,
vielleicht so zwei, drei Jahre alt, mit aufgeblähten
Bäuchen, aufgequollenem Kopf, hervorstehenden Augen,
im Wassergraben, also am Trottoir lagen, und das schmutzige
Abwasser, dieses Ghettoabwasser schlürften.“ (Klemp
2013: 112)
Im Warschauer Ghetto ereigneten sich schreckliche, unvorstellbare
Dinge. Deswegen beginnen wir die Rezension des Buches „Vernichtung:
Die deutsche Ordnungspolizei und der Judenmord im Warschauer
Ghetto 1940-43“ von Stefan Klemp, das im Prospero
Verlag erschienen ist, mit diesem prägnanten Zitat.
Doch die Schwere der von Deutschen und ihren Helfern
begangenen Verbrechen in Warschau ist nicht das Hauptthema,
diese sind allseits bekannt und gut dokumentiert – auch
wenn sich ein Hinweis immer lohnt.
Das Buch von Stefan Klemp macht es sich zum Ziel, die
Rolle der deutschen Ordnungspolizei bei der Vernichtung
von Juden im Warschauer Ghetto aufzuarbeiten. Dabei wird
erneut ein wichtiger Abschnitt deutscher Geschichte in
den Fokus gerückt: Dass die SS, die Gestapo und
der SD Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Gewissen
haben, ist schon lange klar. Auch der Mythos einer „sauberen
Wehrmacht“ ist spätestens seit der Wehrmachtsausstellung,
die ab 1995 in vielen Städten Deutschlands zu sehen
war, passé. Nun richtet sich also der Blick auf
die deutsche Ordnungspolizei, die zwischen 1940 und 1943
bei der Judenvernichtung tatkräftig engagiert gewesen
war.
Klemp beschreibt sehr detailliert, wer als Ordnungspolizist
im Warschauer Ghetto tätig war – beginnend mit
den Hauptverantwortlichen bis hin zum einfachen Polizisten.
Schon nach wenigen Seiten wird deutlich: Die deutsche Ordnungspolizei
war ähnlich engagiert und brutal bei der Vernichtung
von Juden vorgegangen wie SS oder Gestapo. Besonders verstörend
erscheint bei der Beschreibung der Taten die Verhöhnung
der Opfer: Ordnungspolitzisten feierten mit viel Alkohol
nach ihren Tötungseinsätzen in einer Kneipe mit
Davidstern als Lampe und Karikaturen von Juden an der Wand.
Auch wurden Zähllisten für getötete Juden
angelegt, eine Art Wettbewerb erwuchs, bei dem der Ordnungspolizist
gewann, der die meisten Juden erschoss. Als Belohnung gab
es Privilegien und Anerkennung. Wie dementsprechend Juden
im Ghetto betrachtet wurden, macht folgendes Zitat eines
Polizisten deutlich: „Man sah die Juden als eine
Art Insekten an, deren Vernichtung wünschenswert war.“ (Klemp
2013: 122)
Die Legende vom „Freund und Helfer“
Das Buch stellt sich die Frage, was das für Menschen
waren, die da als Ordnungspolizisten ihren „Dienst“ verrichteten.
Dabei werden viele brutale und psychopatische Menschen
beschrieben, aber auch Ordnungspolizisten, die nicht
morden konnten und sich das Leben nahmen oder auf andere
Weise versuchten, dem Morden zu entgehen. Klemp macht
mit vielen Einzelschilderungen nicht nur deutlich, dass
die Legende von der „sauberen Polizei“, dem „Freund
und Helfer“ nichts anderes ist als eben eine Legende,
sondern dass diese von Tätern gezielt genutzt wurde,
um in der Nachkriegszeit straffrei auszugehen. Klemp
kann zeigen, dass die Nachkriegsjustiz in vielen Fällen
massiv versagt hat bei der Aufarbeitung der schweren
Verbrecher – aus Inkompetenz oder teilweise ganz
bewusst wurden Verfahren in Westdeutschland verschleppt,
falsch geführt und endeten oft in Freisprüchen
für Männer, die in Warschau auf eigene Veranlassung
mordeten. Zudem wurden sowohl in Ost- wie in Westdeutschland
ehemalige Polizisten als Agenten angeheuert.
Eines ist das Buch nicht, will es auch gar nicht sein:
es ist keine soziologische Studie über Normen und
Werte, durch die allgemeine Aussagen über die Täter
gemacht werden können. Doch die vielen Einzelbeispiele
machen deutlich, wie hoch das Ausmaß der Menschenverachtung
war, und dass Polizisten auch ohne eindeutigen Befehl,
aus eigenem Antrieb und aus eigener nationalsozialistischer Überzeugung
mordeten. Klemp bezieht klar Stellung gegen rein strukturelle
Erklärungen des Holocausts, sondern vermutet, dass „Exzess-
und Initiativtäter 20 Prozent, und Befehlstäter
60 Prozent der nationalsozialistischen Gewaltkriminalität
ausmachen.“ (Klemp 2013: 227)
Das Buch ist auch für geschichtsinteressierte Laien
gut lesbar, eine etwas knapp geratene Zeittafel hilft
dabei, die Übersicht zu bewahren. Einige Bilder
lockern den Lesefluss zusätzlich auf. Wünschenswert
wäre eventuell eine bildliche Darstellung der Organisationsstrukturen
der Polizei gewesen, auch hat das Lektorat an einigen
Stellen noch kleinere Fehler übersehen.
Nichtsdestotrotz kann sich das Buch zu einem wertvollen
Bestandteil der Literatur über Verbrechen der Deutschen
an den Juden im II. Weltkrieg zählen. Die detaillierten
Beschreibungen lassen keinen Zweifel daran, dass auch
die Ordnungspolizei an den nationalsozialistischen Verbrechen
beteiligt war.
polen-heute.de
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