Mittwoch, 29. Mai 2013 polen-heute.de
Rezension: Vernichtung: Die deutsche Ordnungspolizei und der Judenmord im Warschauer Ghetto 1940-43
Veröffentlicht von Lars Leschewitz und Lukas Plewnia

Die Polizei und das Warschauer Ghetto

Ich sah […] wie drei völlig nackte Kinder, vielleicht so zwei, drei Jahre alt, mit aufgeblähten Bäuchen, aufgequollenem Kopf, hervorstehenden Augen, im Wassergraben, also am Trottoir lagen, und das schmutzige Abwasser, dieses Ghettoabwasser schlürften.“ (Klemp 2013: 112)

Im Warschauer Ghetto ereigneten sich schreckliche, unvorstellbare Dinge. Deswegen beginnen wir die Rezension des Buches „Vernichtung: Die deutsche Ordnungspolizei und der Judenmord im Warschauer Ghetto 1940-43“ von Stefan Klemp, das im Prospero Verlag erschienen ist, mit diesem prägnanten Zitat. Doch die Schwere der von Deutschen und ihren Helfern begangenen Verbrechen in Warschau ist nicht das Hauptthema, diese sind allseits bekannt und gut dokumentiert – auch wenn sich ein Hinweis immer lohnt.

Das Buch von Stefan Klemp macht es sich zum Ziel, die Rolle der deutschen Ordnungspolizei bei der Vernichtung von Juden im Warschauer Ghetto aufzuarbeiten. Dabei wird erneut ein wichtiger Abschnitt deutscher Geschichte in den Fokus gerückt: Dass die SS, die Gestapo und der SD Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Gewissen haben, ist schon lange klar. Auch der Mythos einer „sauberen Wehrmacht“ ist spätestens seit der Wehrmachtsausstellung, die ab 1995 in vielen Städten Deutschlands zu sehen war, passé. Nun richtet sich also der Blick auf die deutsche Ordnungspolizei, die zwischen 1940 und 1943 bei der Judenvernichtung tatkräftig engagiert gewesen war.

Klemp beschreibt sehr detailliert, wer als Ordnungspolizist im Warschauer Ghetto tätig war – beginnend mit den Hauptverantwortlichen bis hin zum einfachen Polizisten. Schon nach wenigen Seiten wird deutlich: Die deutsche Ordnungspolizei war ähnlich engagiert und brutal bei der Vernichtung von Juden vorgegangen wie SS oder Gestapo. Besonders verstörend erscheint bei der Beschreibung der Taten die Verhöhnung der Opfer: Ordnungspolitzisten feierten mit viel Alkohol nach ihren Tötungseinsätzen in einer Kneipe mit Davidstern als Lampe und Karikaturen von Juden an der Wand. Auch wurden Zähllisten für getötete Juden angelegt, eine Art Wettbewerb erwuchs, bei dem der Ordnungspolizist gewann, der die meisten Juden erschoss. Als Belohnung gab es Privilegien und Anerkennung. Wie dementsprechend Juden im Ghetto betrachtet wurden, macht folgendes Zitat eines Polizisten deutlich: „Man sah die Juden als eine Art Insekten an, deren Vernichtung wünschenswert war.“ (Klemp 2013: 122)

Die Legende vom „Freund und Helfer“

Das Buch stellt sich die Frage, was das für Menschen waren, die da als Ordnungspolizisten ihren „Dienst“ verrichteten. Dabei werden viele brutale und psychopatische Menschen beschrieben, aber auch Ordnungspolizisten, die nicht morden konnten und sich das Leben nahmen oder auf andere Weise versuchten, dem Morden zu entgehen. Klemp macht mit vielen Einzelschilderungen nicht nur deutlich, dass die Legende von der „sauberen Polizei“, dem „Freund und Helfer“ nichts anderes ist als eben eine Legende, sondern dass diese von Tätern gezielt genutzt wurde, um in der Nachkriegszeit straffrei auszugehen. Klemp kann zeigen, dass die Nachkriegsjustiz in vielen Fällen massiv versagt hat bei der Aufarbeitung der schweren Verbrecher – aus Inkompetenz oder teilweise ganz bewusst wurden Verfahren in Westdeutschland verschleppt, falsch geführt und endeten oft in Freisprüchen für Männer, die in Warschau auf eigene Veranlassung mordeten. Zudem wurden sowohl in Ost- wie in Westdeutschland ehemalige Polizisten als Agenten angeheuert.

Eines ist das Buch nicht, will es auch gar nicht sein: es ist keine soziologische Studie über Normen und Werte, durch die allgemeine Aussagen über die Täter gemacht werden können. Doch die vielen Einzelbeispiele machen deutlich, wie hoch das Ausmaß der Menschenverachtung war, und dass Polizisten auch ohne eindeutigen Befehl, aus eigenem Antrieb und aus eigener nationalsozialistischer Überzeugung mordeten. Klemp bezieht klar Stellung gegen rein strukturelle Erklärungen des Holocausts, sondern vermutet, dass „Exzess- und Initiativtäter 20 Prozent, und Befehlstäter 60 Prozent der nationalsozialistischen Gewaltkriminalität ausmachen.“ (Klemp 2013: 227)

Das Buch ist auch für geschichtsinteressierte Laien gut lesbar, eine etwas knapp geratene Zeittafel hilft dabei, die Übersicht zu bewahren. Einige Bilder lockern den Lesefluss zusätzlich auf. Wünschenswert wäre eventuell eine bildliche Darstellung der Organisationsstrukturen der Polizei gewesen, auch hat das Lektorat an einigen Stellen noch kleinere Fehler übersehen.
Nichtsdestotrotz kann sich das Buch zu einem wertvollen Bestandteil der Literatur über Verbrechen der Deutschen an den Juden im II. Weltkrieg zählen. Die detaillierten Beschreibungen lassen keinen Zweifel daran, dass auch die Ordnungspolizei an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt war.

polen-heute.de