16.06.13 welt.de
Ukrainischer SS-Offizier in Minnesota aufgespürt
Von Sven Felix Kellerhoff

Auch mehr als 68 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden immer noch bislang unbekannte NS-Täter entlarvt. Journalisten der Nachrichtenagentur Associated Press ist es jetzt gelungen, den 94-jährigen Michael Karkoc im US-Bundesstaat Minnesota aufzuspüren. Er lebt in einem kleinen Haus in Minneapolis. Mit den Reportern sprechen wollte Karkoc aber nicht.

Die Journalisten hatten auf den Tipp eines britischen Amateurhistorikers hin Recherchen begonnen. Karkoc, geboren am 6. März 1919 in Luzk im Nordwesten der Ukraine, soll in seinen 1995 in seiner Muttersprache erschienen Memoiren angegeben haben, er sei einer der Mitbegründer des "Ukrainischen Selbstschutzes" gewesen, einer Truppe von Freiwilligen, die den deutschen Truppen in der besetzten Sowjetunion zuarbeiteten. 1949 wanderte Karkoc in die USA aus und erhielt zehn Jahre später die US-Staatsbürgerschaft.

Weil er im sogenannten Naturalisierungsverfahren seine Kooperation mit der SS verschwiegen hatte, droht ihm nun die Aberkennung seines US-Passes und die Abschiebung nach Deutschland. Vorbild könnte der Fall des ebenfalls gebürtigen Ukrainers John (Iwan) Demajnjuk sein, der 2009 nach längeren Kontroversen von den USA in die Bundesrepublik ausgewiesen und in München vor Gericht gestellt wurde. Er war Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor gewesen. 2011 wurde er verurteilt, starb allerdings, bevor das milder Urteil Rechtskraft erlangte.

Beihilfe zu Kriegsverbrechen?

Nach den bisherigen Recherchen war Karkoc nicht im KZ-Apparat der SS eingesetzt, sondern könnte an anderen Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein. Konkrete Vorwürfe werden ihm zwar bisher nicht gemacht; klar ist aber, dass die beiden Einheiten, zu denen er nachweislich gehörte, an Massenmorden im Zusammenhang mit dem Besatzungsregime in der Sowjetunion und in Polen beteiligt waren. Seit dem Schuldspruch gegen Demjanjuk reicht die Zugehörigkeit zu einer nachweislich an Kriegsverbrechen beteiligten Einheit, um wegen Beihilfe zum Mord angeklagt zu werden.

Konkret gehörte Karkoc zunächst offenbar zur 2. Kompanie der "Ukrainischen Selbstschutz-Legion". Auf einer Namensliste der Mitglieder dieser Einheit steht er mit korrekten Geburtsdatum und dem Rang "Leutnant" an erster Stelle. In seinen Memoiren gab Karkoc an, mit dieser Einheit an der Seite der Wehrmacht gekämpft und dafür sogar ausgezeichnet worden zu sein, möglicherweise mit dem Eisernen Kreuz.

In der Realität waren solche in der Regel schlecht organisierten und unausgebildeten Freiwilligen-Einheiten aber selten direkt an der Front im Einsatz, eher im Hinterland. Dort gehörte es zu ihren Aufgaben, gegen echte oder vermeintliche Gegner der Besatzungstruppen vorzugehen - also gegen Partisanen und Juden. Für die 2. Kompanie der "Legion" sind bisher konkrete Einsatzorte noch nicht bekannt, aber das dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis für Archivrecherchen hier Aufschluss bringen.

21 Menschen lebendig verbrannt

Auf jeden Fall soll die Einheit in der Nähe gewesen sein, als am 3. Dezember 1943 in dem Ort Pidhajzi nahe von Karkocs Geburtsstadt Luzk 21 Zivilisten, darunter neun Kinder, lebendig verbrannt wurden. In der Kleinstadt hatten auch tausende Juden gelebt; mehr als 2500 von ihnen wurden im Herbst 1942 ins Vernichtungslager Belzec deportiert. Auch an solchen "Räumungen" waren meistens neben SS- und Gestapo-Einheiten einheimische "Hilfswillige" beteiligt. Eine konkrete Spur in Richtung Karkoc gibt es aber bisher offenbar nicht.

Später gehörte der junge Ukrainer der 14. Waffen-SS-Grenadier-Division mit dem Beinamen "Galizien" an. Diese Einheit war neben Einsätzen an der Front oft auch mit der "Partisanenbekämpfung" im Hinterland beschäftigt, meist nichts anderes als ein Deckmantel für den Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung. 1944/45 beteiligten sich diese Freiwilligen an zahlreichen Kriegsverbrechen in Polen und in der besetzten Tschechoslowakei. Am 8. Mai 1945 ergaben sich die Reste der Division britischen Truppen.

Da die Einheit offiziell als "galizisch" galt, was als Synonym für "polnisch" verstanden wurde, lieferten die Briten die Kriegsgefangenen dieser Division nicht wie bei anderen "fremdländischen" Hilfstruppen der Waffen-SS an die Sowjetunion aus. Im Gegenteil konnten nach einiger Zeit als "Displaced Persons" viele dieser jungen Männer in die USA und nach Großbritannien auswandern.

Der Fall Hans Lipschis

Schon 2005 war der Verdacht aufgekommen, dass noch rund 200 ehemalige Mitglieder der Division in Großbritannien leben könnten, darunter möglicherweise sogar bis zu 75 Männer, die wenigstens zeitweise im KZ Auschwitz als Wachen eingesetzt gewesen waren. Seinerzeit führten weitere Recherchen aber nicht zu gerichtsverwertbaren Beweisen.

Seit dem Demjanjuk-Urteil in München liegt die Hürde für eine Anklage solcher Helfershelfer des Holocausts und des Vernichtungskrieges deutlich niedriger. Nur deshalb konnte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft auch offiziell Ermittlungen gegen den früheren Auschwitz-Wachmann und SS-Koch Hans Lipschis aufnehmen, dessen Fall durch Recherchen der "Welt" bekannt geworden war.

Wie Karkoc hatte auch Lipschis bei seiner Einreise in die USA falsche Angaben gemacht, auch wenn er nicht eingebürgert wurde, sondern nur eine permanente Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Lipschis war 1983 in die Bundesrepublik ausgewiesen worden, konnte aber nach damaliger Rechtslage in Deutschland nicht angeklagt werden. Dazu kam es erst jetzt.

Wie es aussieht, hat Michael Karkoc mit seinen Memoiren selbst einen wesentlichen Hinweis für die Aufklärung seiner Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg gelegt. Weitere Recherchen werden folgen; ist eine Person erst einmal identifiziert, gibt es in verschiedenen Archiven weltweit Möglichkeiten, Details zu finden. Dutzende weitere Ermittlungsverfahren gegen uralte mutmaßliche Täter wegen Beteiligung an NS-Verbrechen laufen derweil.

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