17.07.13 welt.de
Operation Last Chance II - Die letzte Nazi-Jagd
Von Miriam Hollstein

Sie habe genug von den Neonazis und der Holocaust-Leugnung in Österreich, schrieb die Frau aus Wien. Deswegen würde sie gern mitteilen, dass in ihrer Nachbarschaft eine der schlimmsten KZ-Wärterinnen überhaupt lebe. Die genaue Adresse schickte sie mit.

Die Spur führte zu Erna Wallisch, die einst Aufseherin in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Majdanek gewesen war. Überlebende hatten sie als besonders sadistisch beschrieben. Frühere Verfahren gegen die gebürtige Deutsche waren eingestellt worden. Nachdem sich das Simon-Wiesenthal-Zentrums eingeschaltet hatte, wurden die Ermittlungen schließlich wieder aufgenommen.

Es sind Geschichten wie diese, die Efraim Zuroff hoffen lassen. Denn ihm läuft die Zeit davon. "Uns bleiben noch zwei, drei Jahre, vielleicht etwas mehr", sagt der Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Israel und einer der bekanntesten Nazi-Jäger der Welt. Dann werden auch die letzten NS-Kriegsverbrecher gestorben sein.

Plakataktion in deutschen Städten

Aus diesem Grund startet das Wiesenthal-Zentrum am Dienstag in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Wall AG die Fahndungsaktion "Operation Last Chance II". In mehreren Großstädten werden Plakatezu sehen sein, die in Schwarzweiß den Haupteingang zu Auschwitz-Birkenau zeigen. "Millionen Unschuldiger wurden von Nazi-Kriegsverbrechern ermordet. Einige der Täter sind frei und am Leben!" steht darunter.

"Helfen Sie uns, diese vor Gericht zu bringen." Bis zu 25.000 Euro Belohnung stellt das Wiesenthal-Zentrum für Hinweise in Aussicht, die zum Ergreifen von Kriegsverbrechern führen.

Es ist ein Stochern im Dunkeln. "Wir fahnden nach Menschen, die wir noch nicht kennen", sagt Zuroff. Es sind Menschen, die an den Kriegsverbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren, aber auf keiner Liste und in keinem Geschichtsbuch stehen. Das Wiesenthal-Zentrum hofft auf Bekannte, ehemalige Arbeitskollegen, Nachbarn, die etwas über die Vergangenheit der betreffenden Personen wissen und bereit sind, die Information weiterzugeben. Dann wird geprüft, ob diese stimmen, ob die Betroffenen ausfindig gemacht und man strafrechtlich gegen sie vorgehen kann.

Wendepunkt Demjanjuk

"Die Verurteilung von Demjanjuk war der Wendepunkt", sagt Zuroff über den Ursprung der Aktion. Der Ukrainer Iwan Demjanjuk war im Mai 2011 vom Münchener Landgericht II wegen Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen im Vernichtungslager Sobibor verurteilt worden. Es war das erste Mal seit den sechziger Jahren, dass in Deutschland ein Nazi-Helfer verurteilt wurde, dem keine konkrete Tat zugeschrieben werden konnte. Das Gericht sah es aber als erwiesen an, dass er "Teil der Vernichtungsmaschinerie" in Sobibor gewesen war. Damit ist ein Präzedenzfall geschaffen.

Es geschieht selten, dass Familienangehörige den entscheidenden Hinweis geben. Einmal hat Zuroff erlebt, dass eine junge Deutsche das Wiesenthal-Zentrum über die Kriegsverbrechen ihres Großvaters informierte. Zu einem Strafverfahren kam es damals nicht. Der Mann war körperlich bereits so hinfällig, dass die Ermittlungen eingestellt wurden.

655 Verdächtige ausfindig gemacht

"Operation Last Chance II" ist die Nachfolgeaktion zu "Operation Last Chance", die 2002 in Osteuropa, 2003 in Österreich und 2005 in Deutschland gestartet wurde. Rund 5000 Menschen haben sich seither beim Wiesenthal-Center gemeldet. Dank ihrer Hinweise konnten circa 655 Verdächtige ausfindig gemacht werden, in 103 Fällen wurden die Informationen der örtlichen Justiz übergeben. In acht Fällen sei es zu strafrechtlichen Maßnahmen gekommen, sagt Zuroff und klingt zufrieden. Die wenigsten Fälle erregen so viel Aufsehen wie der Prozess gegen Iwan Demjanjuk.

Ja, räumt er ein, auch er habe schon einmal so etwas wie Mitleid empfunden, wenn dann ein tattriger Greis als Kriegsverbrecher in den Gerichtssaal geführt würde. Zuroff nennt es das "misplaced sympathy syndrom". Denn die Nazi-Verbrecher seien die letzten Menschen, die Sympathie verdient hätte: "Ich habe es nicht ein einziges Mal erlebt, dass sie Mitleid mit ihren Opfern gehabt oder ihre Taten bereut hätte", sagt Zuroff: "Man muss solche Gefühle ignorieren. Es ist viel wichtiger, dass diese Personen für ihre Verbrechen bezahlen."

Dass manche der Ansicht sind, man solle die Nazi-Jagd einstellen, lässt ihn kalt: "Mir geht es nicht darum, dass alle unsere Aktion unterstützen. Es geht um jene, die Informationen haben und die bereit sind, diese weiterzugeben."

Ausgeprägtes Verständnis für die Aktion

Bereits im Dezember 2011 hatte er "Operation Last Chance II" im Deutschen Bundestag vorgestellt. 35 Hinweise habe es bislang gegeben, zu einer Strafverfolgung kam es bislang aber nicht. Mit der Plakatkampagne soll die Aktion noch einmal neu gestartet werden. Die meisten Deutschen hätten ein sehr ausgeprägtes Verständnis dafür, dass Nazi-Verbrecher für ihre schrecklichen Taten vor Gericht gebracht werden müssen, sagt Zuroff, der in den USA aufwuchs und später nach Israel emigrierte.

Ganz anders sei die Situation in Österreich: "Dort hatte es in über 30 Jahren nicht eine einzige erfolgreiche Strafverfolgung gegeben – das ist absurd." Auch in Osteuropa gebe es Schwierigkeiten: Dort würden Kriegsverbrecher oft geschützt und als "Helden" verklärt, weil sie auch gegen den Kommunismus gekämpft hätten.

Falsche Fährten für eine lohnende Spur

Die meisten Informationen, die Zuroff und das Wiesenthal-Zentrum erhalten, sind wertlos. Doch für die eine Spur, die weiterführt, nimmt der 64-Jährige auch viele falsche Fährten und jahrelange vergebliche Recherche in Kauf. Als Besessenen sieht er sich dennoch nicht. "Es ist keine Obsession, sondern eine Mission."

Im Fall der KZ-Aufseherin Erna Wallisch fand das Simon-Wiesenthal-Zentrum nach dreijähriger Recherche endlich neue Zeugen, die bereit waren, gegen Wallisch auszusagen. Erst dann nahm die österreichische Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf. Vor Gericht musste sich Wallisch dennoch nicht mehr verantworten. Am 16. Februar 2008 starb sie kurz nach ihrem 86. Geburtstag.

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