19.07.2013 | 17:36 Uhr derwesten.de
Fahndung bis ans Lebensende - Jagd auf letzte Nazi-Schergen
Dietmar Seher

Essen.  Seit 2011 ermittelt die Zentrale Stelle in Ludwigsburg bundesweit gegen frühere Wachleute in Konzentrationslagern des Nazi-Regimes. Bis zum Frühsommer wurden je neun Verdächtige in Bayern und ­Baden-Württemberg entdeckt, vier weitere leben in NRW. Der „Nazi-Jäger“ Efraim ­Zuroff hat jetzt Belohnungen ausgesetzt für Tipps auf die alten Täter. 5000 Hinweise habe er bereits bekommen, sagt er.

Samuel Kunz saß am Ende nicht vor seinem irdischen Richter. 89 Jahre alt war der Bonner, als der Dortmunder Staats­anwalt Andreas Brendel ihn anklagen konnte. Kunz war Wachmann im NS-Vernichtungslager Belzec gewesen. „Alle Wachleute wussten Bescheid“, ist Brendel der Meinung. Aber kurz vor Beginn des Prozesses, in dem sich der alte Herr  ­wegen Beihilfe zum Mord verantworten sollte, ist Samuel Kunz ­gestorben. Das war 2010 und 65 Jahre nach Kriegsende.

Die Wende von München

Dieser Tod damals hat Efraim ­Zuroff tief frustriert. „Die Tatsache, dass Kunz Jahrzehnte ungestraft in Deutschland leben konnte, ist das Ergebnis einer fehlerhaften Ermittlungsstrategie, die praktisch jeden Holocaust-Täter schonte, der kein Offizier war“, gab der Direktor des Simon Wiesenthal Centers in ­Jerusalem zu Protokoll. Das Wiesenthal Center hat sich zum Ziel gesetzt, die letzten Kriegsver­brecher zu überführen.

Heute kann Zuroff mehr denn je daran arbeiten, wenn auch, was mit dem Alter der alten Damen und Herren zu tun hat, „vielleicht noch zwei, drei Jahre“. 2011, so sagt der Amerikaner, habe es die „Landmark“ gegeben, den Wendepunkt in der deutschen Rechtsprechung: Das Landgericht München II verurteilte John Demjanjuk, einst Wachmann in Sobibor, wegen ­Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen.

Auch Wachleute waren Täter

Das Urteil erhielt, weil Demjanjuk starb, nie Rechtskraft. Aber es hat klar gemacht: Auch Wachleute der Vernichtungslager und Mitglieder der Einsatz­kommandos, die der Wehrmacht in die besetzten Gebiete folgten, um dort Juden zu töten, sind verantwortlich für den Holocaust. Selbst, wenn sie nicht selbst getötet haben.

Tatsächlich hat der Vorgang deutsche Staatsanwälte wie die in der Zentralen Stelle in Ludwigsburg mobilisiert, zu ermitteln. Sie tun dies seither bundesweit. Im Frühsommer hatten sie je neun Verdachtsfälle in Bayern und ­Baden-Württemberg im Auge sowie vier in Nordrhein-Westfalen.

Für „Nazi-Jäger“ Zuroff ist das „Landmark“-Jahr 2011 der Anlass gewesen, seine „Operation Last Chance II“ zu starten, die letzte ­Suche. 5000 Hinweise hat er seither bekommen, 655 Verdächtige gefunden. In acht Fällen, nicht nur in Deutschland, sind die mutmaß­lichen Täter ins Raster der Justiz­behörden geraten.

Weltweite Suche

Efraim Zuroff ist Amerikaner und in New York geboren. Für das US-Justizministerium wirkte er nach dem Studium an der Hebräischen Universität in ­Jerusalem und einer ersten Phase als Direktor des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles mit an der ­Vorbereitung vieler Anklagen gegen ehemalige Kriegsver­brecher, die in den USA lebten.

Heute kann der 65-Jährige auf zahlreiche Schauplätze verweisen, auf denen er Verbrechen des Holocaust aufgearbeitet hat: Australien, Kanada, Großbritannien, später nach dem Ende der Ost-West-Teilung auch in Litauen, Lettland und ­Estland.

Viele Anklagen erreicht

Auf dem Baltikum ­verfolgte er die weit verbreitete Komplizenschaft dortiger Staatsangehöriger mit dem nationalsozialistischen Regime. Viele der ermittelten Täter konnten angeklagt ­werden. So bekam Zuroff den Titel „Nazi-Jäger“. Er jagte den Arzt von Mauthausen, Dr. Aribert Heim („Dr. Tod“) und in Ungarn Sandor Kepiro, der laut einem nicht rechtskräf­tig gewordenen Gerichtsbeschluss für das Massaker von Novi Sad verantwortlich war. In Kroatien ­spielte Efraim Zuroff eine wichtige Rolle bei der Festnahme von Dinko Sakic, einem ehemaligen KZ-Kommandanten. Zuroff ist Autor des Buches „Operation Last Chance. Im ­Fadenkreuz des Nazi-Jägers“, ­Prospero-Verlag 2013.

2000 Plakate in Berlin, Hamburg und Köln

„Wir fahnden nach Menschen, die wir noch nicht kennen“, sagt er jetzt wieder zur neuen Fahndungsinitiative in Deutschland. Freunde und Nachbarn könnten aber etwas wissen oder gehört ­haben. Sie sollen sich melden. Bis zu 25 000 Euro werden für sachdienliche Informationen aus­gelobt, die er aufgrund der großen Plakataktion erwartet. Sie beginnt am Dienstag in Berlin, Hamburg und Köln. 2000 Poster werden dort aufgehängt. Städtewerber des Unternehmens Wall unterstützen das Wiesenthal Center.

Drei neue Namen

Warum solch eine Belohnung? Reagieren die Informanten nur, wenn Euros im Spiel sind? „Es geht gar nicht so sehr ums Geld“, sagt Zuroff, „aber die hohe Summe schafft die Aufmerksamkeit der Medien“. Und die brauche die Suche nach den letzten noch lebenden Tätern.

Die Aktion jedenfalls ist schon vor ihrem Start gut angelaufen. Nach einer ersten Veröffentlichung in dieser Woche „haben wir schon drei neue Namen“, sagt Zuroff – Verdachtsfälle, die bisher unbehelligt ­leben. Zwei hier, ein Mensch in in den Niederlanden. Zuroff hofft auch, dass es endlich zu neuen Verurteilungen kommen kann.

Zu späte Ermittlungen

Das ist nicht nur im Fall Samuel Kunz nicht gelungen. Auch Erna Wallisch aus Wien, die jüdische Überlebende als die Sadistin von Majdanek beschrieben haben, war durch einen Hinweis an das ­Wiesenthal Center aufgeflogen, in der Nachbarschaft lebe eine Frau mit Vergangenheit.

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