Mittwoch, 28.08.2013, 17:58 focus.de
25 000 Euro Belohnung – Die letzte Chance der Nazi-Jäger
Harald Wiederschein
Vor kurzem hat das Simon-Wiesenthal-Zentrum die Deutschen aufgerufen, bei der Fahndung nach noch lebenden Nazi-Verbrechern zu helfen – und zahlreiche Hinweise erhalten. Mitleid haben die greisen Verfolgten nicht verdient.
„Wir haben so viele Hinweise erhalten, dass wir Mühe haben, sie alle zu bearbeiten“, äußerte ein Mitarbeiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums. Ende Juli und Anfang August hatte die Organisation auf insgesamt 2000 Plakaten in Berlin, Hamburg und Köln unter dem Motto „Spät, aber nicht zu spät“ die Bevölkerung aufgerufen zu helfen, noch lebende Nazi-Täter vor Gericht zu bringen. Bis zu 25 000 Euro Belohnung für wertvolle Informationen sind ausgelobt. „Bislang haben wir Hinweise auf etwa 25 Personen bekommen, darunter befindet sich höchstwahrscheinlich ein KZ-Aufseher“, lautete das bisherige Fazit des Mitarbeiters.

Ist es für eine solche Aktion – fast 70 Jahre nach Kriegsende – aber nicht viel zu spät? Macht es überhaupt noch Sinn, greise NS-Täter vor Gericht zu bringen? Der Historiker Michael Wolffsohn etwa kritisierte die „Operation Last Chance II“ im Deutschlandradio als „geschmacklos“ und warnte vor Mitleidseffekten mit den hochbetagten Beschuldigten. „Genau diese Argumente, dass man vor allem Mitleid für die Täter hervorrufe oder dass die Taten schon zu lange zurückliegen, wurden schon in den 1950er-Jahren vorgebracht“, wendet dagegen die Historikerin Anette Weinke von der Universität Jena ein. Diese Einwände seien schon so lange zu hören, wie NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland verfolgt würden.

Nur wenige NS-Täter wurden bestraft – und dann meist nur milde

„Die Operation Last Chance II mag drastisch und plakativ sein, doch sie ist notwendig“, betont Weinke. Gerade weil es bei der Verfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Defizite gegeben habe und auch heute noch Teile der Bevölkerung dem Thema gleichgültig gegenüber stünden. „Die letzten Täter vor Gericht zu bringen, sind wir den überlebenden Opfern und den Angehörigen schuldig, um zumindest einen Ansatz von Gerechtigkeit herzustellen“, erläutert die Historikerin. Auch sei es nach wie vor wichtig, über das, was zur NS-Zeit geschehen sei, aufzuklären. Zudem rücke dadurch in den Blick, wie in der Vergangenheit mit Nazi-Verbrechern umgegangen worden sei.

Und dieser Blick enthüllt eine reichlich zwiespältige Bilanz: Zwar wurden seit 1945 auf westdeutschem Gebiet gegen mehr als 172 000 Personen Ermittlungen eingeleitet, aber letztlich nur rund 6600 von ihnen rechtskräftig verurteilt. 4000 übrigens noch vor Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949, als es noch die Westzonen unter Kontrolle der Alliierten gab. Aber selbst wenn sie verurteilt wurden, kamen die meisten NS-Verbrecher äußerst glimpflich davon. „Über die Hälfte erhielt lediglich Haftstrafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr“, sagt Weinke. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz habe eine lebenslängliche Freiheitsstrafe bekommen.

Entlastet und verjährt

Die bundesrepublikanische Justiz tat sich mit der Verurteilung von NS-Tätern meist sehr schwer. Viele Juristen der Nachkriegszeit waren bereits im Dritten Reich Staatsanwälte oder Richter gewesen – und damit entsprechend befangen. Auch mussten sie, wenn sie Angeklagte doch verurteilten, gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung entscheiden. Denn die hatte an einer Bestrafung von Nazi-Verbrechern kein Interesse.

„Selbst höchste Gerichte haben sich nicht mit Ruhm bekleckert“, bemerkt die Historikerin Annette Weinke von der Universität Jena. Häufig seien alle nur möglichen Faktoren zu Gunsten der Beschuldigten gewertet worden. So habe man den Tätern zugestanden, dass sie ihre Verbrechen nicht aus eigenem Antrieb, sondern nur auf Befehl begangen hätten, ja dass sie sogar bestraft worden wären, wenn sie die Ausführung verweigert hätten. Auch hätten sie angeblich kein Unrechtsbewusstsein haben können, weil sie ideologisch indoktriniert worden seien. „Die meisten wurden laut Rechtsprechung lediglich als Gehilfen bei Holocaust- und anderen Nazi-Verbrechen betrachtet, während allein Hitler, Himmler und Heydrich als Hauptschuldige galten“, sagt die Historikerin. Doch die waren nicht mehr zu belangen.

Friedlicher Tod eines hochbetagten Massenmörders

Sogar die für den Massenmord an den Juden verantwortliche Kerngruppe im Reichssicherheitshauptamt kam ungeschoren davon. Als die damalige große Koalition 1968 eine Strafrechtsreform durchführen ließ, wurde ins Strafgesetzbuch ein Absatz eingefügt, der weitreichende Folgen haben sollte. Denn nun konnten die „Gehilfen“ der Nazi-Verbrechen, sofern sie die Taten nicht aus „niedrigen Motiven“ begangen hatten – und das behauptete praktisch jeder Beschuldigte – nur noch wegen Totschlags angeklagt werden. Womit ihr mörderisches Tun automatisch verjährt war. „Damals wurde behauptet, diese Strafrechtsänderung sei eine Panne gewesen“, bemerkt Weinke. „Doch heute gehen Historiker davon aus, dass dahinter das gezielte Eingreifen einer Amnestie-Lobby gesteckt hat.“

Wie unbehelligt selbst führende Vollstrecker des Holocaust in Deutschland leben konnten, zeigt der Fall des früheren SS-Standartenführers Martin Sandberger. Als Befehlshaber eines Einsatzkommandos sowie Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Estland war er für den Tod Tausender Juden, Kommunisten sowie Sinti und Roma verantwortlich. 1948 wurde er im so genannten Einsatzgruppen-Prozess zum Tode verurteilt, das Urteil jedoch in lebenslange Haft umgewandelt. Bereits zehn Jahre später kam er frei. Fortan lebte der Massenmörder mehr als ein halbes Jahrhundert – ohne weitere Strafverfolgung fürchten zu müssen – in der Bundesrepublik und verschied 2010 friedlich im Alter von 98 Jahren in einem Stuttgarter Altersheim.

Mit dem SS-Kommandeur Martin Sandberger starb der wahrscheinlich letzte Protagonist der Mordmaschinerie der Nazis. „Diejenigen Täter, die jetzt noch am Leben sind, gehörten in der Regel allein schon vom Alter her eher zu den Handlangern“, sagt die Historikerin Annette Weinke von der Universität Jena. „Es hat natürlich einen bitteren Beigeschmack, sie vor Gericht zu stellen, nachdem die meisten höherrangigen Verantwortlichen davongekommen sind.“ Doch auch von den im Dritten Reich jungen Tätern sind nicht mehr viele am Leben. „In Deutschland dürften das noch etwa 50 bis 100 Personen sein, weltweit vielleicht einige Hundert“, schätzt die Historikerin.

Ein solcher Handlanger war John Demjanjuk. Der in der Roten Armee kämpfende Ukrainer war 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und wurde als so genannter Hilfswilliger von der SS rekrutiert. Eingesetzt war er unter anderem als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor. Ein Münchner Gericht verurteilte ihn im Mai 2011 wegen Beihilfe zum Mord in über 20 000 Fällen zu fünf Jahren Haft. Wegen seines hohen Alters musste Demjanjuk jedoch nicht ins Gefängnis, er starb ein Jahr später in einem Pflegeheim.

Jetzt reicht schon die Tatbeteiligung

Mit dem Demjanjuk-Prozess betrat die deutsche Justiz juristisches Neuland. Erstmals verurteilte sie einen Täter, allein weil er „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ der Nazis gewesen war. „Bis dahin musste einem Angeklagten immer eine konkrete Tat individuell nachgewiesen werden können“, sagt die Politikwissenschaftlerin Irene Etzersdorfer von der Universität Wien. „Nun reichte schon seine Tatbeteiligung für einen Schuldspruch aus.“

Damit hatte sich die Grundlage für künftige NS-Prozesse geändert. Im Frühjahr 2013 kündigte die Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg an, Vorermittlungen gegen 50 frühere KZ-Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau aufzunehmen. Auch für die „Operation Last Chance II“ spielt das Demjanjuk-Urteil eine große Rolle, wie Efraim Zuroff, der Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Israel, gegenüber der Tageszeitung „Die Welt“ betonte.

Wie wird die Erinnerung an die NS-Verbrechen weiterleben?

Ob die Aktion tatsächlich frühere Nazi-Verbrecher vor Gericht bringt, bleibt abzuwarten. Und selbst dann dürfte fraglich sein, ob ein verurteilter Greis noch ins Gefängnis muss. „Doch es geht letztlich auch weniger um die konkrete Bestrafung als um die öffentliche Kommunikation“, glaubt Etzersdorfer. Die „Operation Last Chance II“ bilde eine bestimmte Stufe in der Erinnerungskultur, kurz vor dem Zeitpunkt, an dem auch der letzte NS-Täter gestorben sei. Und sie stehe für die Suche danach, wie sich diese Erinnerung fortsetzen wird. „Dass sie aber weiterbestehen und lebendig bleiben wird, davon bin ich persönlich überzeugt“, betont die Wissenschaftlerin.

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