02. September 2013, 15:25 Uhr spiegel.de
Verfahren wegen NS-Kriegsverbrechen "Ich bin seit 1942 Deutscher"
Von Jörg Diehl

Der frühere SS-Rottenführer Siert B. steht vor dem Landgericht Hagen, er soll im Zweiten Weltkrieg einen niederländischen Widerstandskämpfer ermordet haben. Der Prozessauftakt lässt erahnen, wie schwer die Wahrheitsfindung nach fast 70 Jahren werden könnte.

Der Mann, der sich über einen Rollator gebeugt in den Saal 201 des Landgerichts Hagen schiebt, ist klein, alt und grau. Er trägt einen farblosen Anorak, das weiße Haar kurz und akkurat geschnitten, er nickt seinem Anwalt zu, die Verschlüsse der Fotoapparate rattern, Kameraleute rangeln miteinander. Siert B. setzt sich.

92 Jahre ist B. nun alt, er hat Enkel und Urenkel und im Nachkriegsdeutschland als Hersteller von Jägerzäunen ein bieder-unauffälliges Leben gelebt. Doch in den Vierzigern diente der in den Niederlanden geborene und aufgewachsene Sohn eines Landwirts bei der SS. Er hatte sich als glühender Nazi, der er war, freiwillig gemeldet zur vermeintlichen Elitetruppe des Unrechtsregimes. Und dabei schreckte er offenbar auch vor Gräueltaten nicht zurück.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat den Rentner wegen Mordes angeklagt. Der SS-Rottenführer Siert B. soll in der Nacht vom 21. auf den 22. September 1944 den holländischen Widerstandskämpfer Aldert Klaas Dijkema erschossen haben, "gemeinschaftlich und heimtückisch", wie Oberstaatsanwalt Andreas Brendel am Montagvormittag sagt.

"Erbarmungslos geguckt"

Demnach hatte ein Kommando der Grenzpolizei, bei der Siert B. diente, Dijkema auf dem Bauernhof seiner Eltern festgenommen. B. und sein Vorgesetzter August N. hätten ihr Opfer in einen Wagen verfrachtet, so Brendel, und seien losgefahren. Irgendwann habe Dijkema das Auto verlassen müssen. "Geh doch mal eben pissen", sagten die Nazi-Schergen laut Anklage und feuerten sodann von hinten auf ihren Gefangenen, mindestens viermal. Zwei Schüsse in den Kopf töteten den 36-Jährigen.

Der niederländischen Polizei und einem Arzt erklärten die SS-Männer anschließend laut Anklage, sie hätten Dijkema nach der Sperrzeit auf offener Straße angetroffen und angesprochen, er sei nicht stehen geblieben, da hätten sie geschossen. Die Staatsanwaltschaft hält diese Darstellung für "wahrheitswidrig", wie Brendel sagt. Er sortiert den Mord ein in die schreckliche Serie von sogenannten Repressalmaßnahmen der Besatzer: Die Deutschen töteten willkürlich niederländische Widerstandskämpfer, um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Siert B. verfolgt die Verlesung der Anklage ausdruckslos. Der Neffe des getöteten Dijkema, Aldert Klaas Veldmann, wird später sagen, B. habe "erbarmungslos geguckt". Womöglich hört der alte Mann aber einfach nur schlecht. Die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen muss ziemlich laut werden, ehe B. auf ihre Fragen reagiert. "Ihre Staatsangehörigkeit ist ungeklärt?", fragt Hartmann-Garschagen. Da kommt zum einzigen Mal an diesem Tag Leben in den Rentner. Ziemlich energisch widerspricht er: "Ich bin seit 1942 Deutscher!"

Das sahen auch die bundesdeutschen Behörden bislang so. Ein Auslieferungsbegehren der niederländischen Justiz lehnten sie Ende der Siebziger unter Berufung auf einen Erlass Adolf Hitlers ab. Der hatte am 25. Mai 1943 die in der Waffen-SS und Wehrmacht dienenden Ausländer zu Deutschen erklärt. Ein eigenes Ermittlungsverfahren wiederum wurde eingestellt, weil die deutschen Juristen die Erschießung Dijkemas seinerzeit als Totschlag ansahen - und damit als verjährt. Inzwischen hat sich ihre Rechtsauffassung geändert.

Angeklagter wird schweigen

Als problematisch könnte sich im Laufe des Prozesses allerdings erweisen, dass der Ablauf der Tat lediglich auf den Aussagen August N.s beruht, der mittlerweile tot ist. Auch alle übrigen Zeitzeugen leben nicht mehr. Vor Gericht werden daher vor allem Akten verlesen und Personen befragt, die ihrerseits als Beamte in früheren Verfahren dereinst Zeugen der Tat vernommen hatten. Der Angeklagte B. wiederum wird wohl schweigen, wie sein Verteidiger Klaus-Peter Kniffka ankündigte.

Im Interview mit dem NDR-Politmagazin "Panorama" hatte B. jedoch eingeräumt, zusammen mit August N. und dem Häftling Dijkema am Tatort gewesen zu sein. Allerdings sagte er den Reportern, nicht er selbst, sondern August N. habe abgedrückt. Die Nebenklage, die der Kölner Anwalt Detlef Hartmann vertritt, setzt große Hoffnungen auf dieses Geständnis eines gemeinschaftlich begangenen Mordes. Unklar jedoch ist, welche Beweiskraft es vor Gericht wird entfalten können.

Im Falle einer Verurteilung droht Siert B. in der Theorie lebenslange Haft - doch was bedeutet das bei einem 92-Jährigen? Ob er eine Strafe jemals verbüßen könnte, ist ungewiss. B. ist gesundheitlich stark beeinträchtigt, das Gericht darf nicht länger als drei Stunden pro Tag gegen ihn verhandeln. Der Prozessauftakt wird sogar bereits nach knapp 30 Minuten beendet.

"Für mich kommt es nicht darauf an, wie alt ein Angeklagter ist", sagt Oberstaatsanwalt Brendel. Für die Kammer indes könnte es im Falle einer Verurteilung sehr wohl auch darauf ankommen.

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