04.09.13, 15:13 abendblatt.de
Hamburgerin soll Wächterin in Auschwitz gewesen sein
Von Denis Fengler und Sven Felix Kellerhoff

Warschau/Hamburg/Ludwigsburg. Es ist eine späte Genugtuung für schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK), eine Organisation von Holocaust-Überlebenden, hat sich erleichtert gezeigt über die Ermittlungen gegen mutmaßliche Aufseher des deutschen Vernichtungslagers.

Die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg hatte am Dienstag angekündigt, dass sie nach ihren Vorermittlungen 30 Verfahren gegen mutmaßliche Nazi-Verbrecher an die Staatsanwaltschaften abgeben will. Diese müssen dann entscheiden, ob sie Anklage erheben wollen.

"Für alle Überlebenden und alle Angehörigen der Opfer in den Konzentrationslagern ist es bis heute ein unerträglicher Gedanke, dass Helfer und Handlanger der nationalsozialistischen Morde ungestraft davonkommen können", sagte IAK-Vizepräsident Christoph Heubner am Rande einer Tagung in Oswiecim (Auschwitz). Es sei erschreckend, wie lange die Täter unentdeckt in der Gesellschaft verschwinden konnten.

Die Auschwitz-Überlebenden würden die Ermittlungen "sehr genau und mit großer Spannung" verfolgen und hofften "wenigstens auf eine späte Gerechtigkeit", betonte Heubner.

Unter den Verdächtigen ist auch eine Hamburgerin. Sie muss eine junge Frau Anfang Zwanzig gewesen sein, als die fanatische Anhängerin des Hitler-Regimes als Mitglied einer Wachkompanie im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Dienst tat.

Mindestens 1,3 Millionen Menschen wurden im größten Todeslager der Nazis ermordet, darunter 1,1 Millionen Juden. Mittlerweile hat sie, Jahrgang 1921, ihren 90. Geburtstag hinter sich gelassen – doch ihrer Vergangenheit entkommt sie nicht. Eine heute 91 oder 92 Jahre alte Hamburgerin soll aktiv am Völkermord beteiligt gewesen sein und könnte dafür vor einem Hamburger Gericht angeklagt werden.

Die Hamburgerin ist eine von insgesamt 31 in Deutschland lebenden Beschuldigten, die knapp 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wegen Beihilfe zum Mord im Konzentrationslager Auschwitz zur Rechenschaft gezogen werden sollen, weil sie als Wächter in dem Vernichtungslager tätig gewesen sein sollen.

Die Nazi-Jäger der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, der sogenannten NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg, hatten insgesamt 49 noch lebende Aufseher des Lagers Auschwitz-Birkenau in den vergangenen Monaten identifizieren können, darunter auch sechs Frauen. Die Vorermittlungen, die im vergangenen Jahr eingeleitet worden waren, erregten weltweit Aufsehen.

Allerdings können längst nicht mehr alle Beschuldigten belangt werden: Mittlerweile sind neun der ehemaligen KZ-Wächter gestorben, sieben leben im Ausland und damit außerhalb des Zugriffs der deutschen Justiz, einer davon sogar in Israel. Bei zwei Beschuldigten konnte der derzeitige Aufenthaltsort bislang nicht ermittelt werden. Und ein Verfahren ist bereits bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart anhängig. Dort wird auch der Fall des SS-Wachmanns Hans Lipschis bearbeitet, der bis vor Kurzem in Aalen (Ostalbkreis) lebte. Der 93-Jährige sitzt nun in Untersuchungshaft, die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum Mord in 9515 Fällen vor.

Die Zentralstelle in Ludwigsburg ist keine Anklagebehörde. Sie führt sogenannte Vorermittlungsverfahren, sucht Beweise und gibt die Fälle dann je nach Prüfergebnis an die zuständigen Staatsanwaltschaften ab. Sie will in den kommenden Tagen und Wochen 30 Verfahren an Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland übergeben, darunter auch den Fall der 1921 geborenen Frau an die Hamburger Staatsanwaltschaft. Die örtlichen Strafverfolger müssten dann entscheiden, ob sie Anklage erheben wollen, sagte der Leiter der NS-Fahndungsstelle, Kurt Schrimm.

Wie der Oberstaatsanwalt erklärte, werden sechs Fälle an die Staatsanwaltschaften in Baden-Württemberg übergeben und sieben Fälle nach Bayern weitergeleitet. Auf Sachsen-Anhalt und Hessen entfallen je zwei Fälle, auf Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen jeweils vier. In Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern lebt wie in Hamburg jeweils ein Verdächtiger.

Bei den Beschuldigten, die im Ausland leben, sollen die Verfahren dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden, der den Gerichtsstand bestimmen soll. Neben Israel sind Kroatien, Österreich, Brasilien, die USA, Polen und Argentinien betroffen.

Ob es zur Anklage komme, hänge von der Einschätzung der Staatsanwaltschaften, der Beweislage und dem Gesundheitszustand der Beschuldigten ab, erläuterte Schrimm. Der älteste Beschuldigte wurde im Jahr 1916 geboren, der jüngste im Jahr 1926. Schrimm warnte vor überzogenen Erwartungen. "Wir wissen nichts über den Gesundheitszustand der Betroffenen." Es könne sein, dass nur einige wenige angeklagt würden. Er sprach angesichts des Alters der Beschuldigten von einem "Wettlauf gegen die Zeit".

Die Zentralstelle habe unabhängig vom Gesundheitszustand der Beschuldigten ermittelt. Ob jemand verhandlungsunfähig sei, müsse erst noch die zuständige Staatsanwaltschaft klären.

Die neuen Untersuchungen waren nach dem Urteil gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk in Gang gekommen. 2011 hatte das Landgericht München Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen schuldig gesprochen und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Davor waren viele mutmaßliche NS-Täter straffrei geblieben, weil der Bundesgerichtshof 1969 im Fall Auschwitz festgelegt hatte, dass für eine Verurteilung der Wächter wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld nachgewiesen werden muss. Dies war vielfach nicht möglich.

Erst in den Vorermittlungen für den Prozess gegen Demjanjuk, Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, hatte die NS-Fahndungsstelle die Beihilfe zum Mord im KZ Auschwitz neu definiert, weder Staatsanwaltschaft noch Landgericht widersprachen dem. Darauf beruft Schrimm sich nun. Nach seiner Auffassung ist jeder belangbar, der in einem Konzentrationslager dazu beigetragen hat, dass das Morden nicht aufhörte. "Das waren nicht nur die, die das Gas für die Gaskammern auffüllten, oder diejenigen, die die Lager bewachten, sondern auch die Köche, die die SS-Mannschaften bewirteten. Alle haben sie die Tötungsmaschinerie am Laufen gehalten," sagte der Jurist Schrimm.

Das Simon Wiesenthal Center in Israel äußerte sich "tief befriedigt". "Die heutige Ankündigung stellt einen Meilenstein bei den Bemühungen dar, Nazi-Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen", schrieb Efraim Zuroff, Direktor der israelischen Abteilung des Zentrums, in einer in Israel veröffentlichten Erklärung. Zuroff beklagte aber zugleich, dass die Verbrechen schon viel früher hätten angeklagt werden müssen. Viele Mörder seien deshalb während der vergangenen 50 Jahre straffrei ausgegangen.

In den vergangenen Jahrzehnten hatte es insgesamt drei große Auschwitz-Prozesse gegeben, der erste war Ende 1963 in Frankfurt am Main eröffnet worden, mit 22 Angeklagten und über 360 Zeugen. Zwei weitere Verfahren gegen fünf Angeklagte mit weiteren 270 Zeugen folgten bis 1970. Außerdem gab es noch mehrere kleinere Prozesse wegen des Massenmordes in Auschwitz.

Die Zentrale Stelle regt an, jeweils mehrere Verfahren in der Zuständigkeit einer Generalstaatsanwaltschaft zu bündeln. Das ist beispielsweise in Nordrhein-Westfalen bereits so geregelt. Dort wird die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Dortmund gegen die vier in diesem Bundesland ansässigen Beschuldigten weiter ermitteln. Auf diese Weise sei es möglich, Parallelermittlungen so weit wie möglich zu vermeiden. Schrimm kündigte an, die NS-Fahndungsstelle werde Anfang November eine Konferenz abhalten, an der alle Ermittlungsbehörden teilnehmen sollen, um das weitere Vorgehen abzustimmen.

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