17. September 2013, 11:34 derstandard.at
Warum immer noch gegen NS-Verbrecher ermittelt wird
Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, über Verjährungsfristen und die Zusammenarbeit mit den österreichischen Behörden

Anfang September wurde bekannt, dass in Deutschland 30 neue Verfahren wegen Beihilfe zum Mord gegen Aufseher des früheren Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau eröffnet werden sollen. Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, erklärt im Gespräch mit Bert Eder, warum 68 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch neue Anklagen erhoben werden.

derStandard.at: Die Frage, ob Mord verjähren soll, beschäftigt Deutschland schon länger: Der Bundestag debattierte zwischen 1965 und 1979 mehrmals, wie angesichts der NS-Verbrechen damit umzugehen sei. Anlass für die Abschaffung der zwanzigjährigen Verjährungsfrist war schlussendlich eine Entschließung des Europäischen Parlaments. Wie ist die Stimmungslage 34 Jahre später?

Schrimm: Bei Diskussionen und Vorträgen habe ich den Eindruck erhalten, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung findet, dass so lange nach dem Krieg keine Strafverfolgung mehr stattfinden sollte. Vor allem junge Menschen neigen zu dieser Ansicht.

derStandard.at: Im Jahr 1960 argumentierte der damalige Justizminister Fritz Schäffer (CSU), dass "mittlerweile alle bedeutsamen Massenvernichtungsaktionen der Kriegszeit systematisch erfasst und weitgehend erforscht" und nur noch wenige "Nachzügler-Prozesse" zu erwarten seien. Warum sind 53 Jahre später immer noch Fälle offen? Gibt es neue Beweise?

Schrimm: Diese Einschätzung hat sich als gewaltiger Irrtum erwiesen. So tauchten in den 80er Jahren zahlreiche Akten der United Nations War Crimes Commission auf, die aus mir unerklärlichen Gründen bis dahin unter Verschluss gehalten worden waren. Auch heute gibt es zum Beispiel aus Südamerika immer noch neue Hinweise.

derStandard.at: Im Gespräch mit der Frankfurter Rundschaunennen Sie als einen der Gründe für die späte Strafverfolgung, dass Ermittlungen schwierig waren, weil Auschwitz jenseits des Eisernen Vorhangs lag. Gab es eine Zusammenarbeit mit den Behörden der Warschauer-Pakt-Staaten?

Schrimm: Mit der damaligen Volksrepublik Polen gab es schon seit den frühen 50er Jahren eine sehr enge Zusammenarbeit, viele Ermittlungen basierten auf Material, das Deutschland von dort überlassen wurde. Mit der UdSSR gab es sporadische Kooperation, andere Länder wie die DDR verweigerten eine solche aber kategorisch mit der Begründung, dass die Zentrale Ermittlungsstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen keine Staatsanwaltschaft sei.

derStandard.at: Die DDR versuchte ja immer wieder, Nachrichten über eine angebliche NS-Vergangenheit bundesdeutscher Politiker zu verbreiten – Stichwort "KZ-Baumeister Lübke". Wie wurden belastende Unterlagen aus dem Osten von der westdeutschen Justiz behandelt?

Schrimm: Die DDR spielte lediglich einzelnen Staatsanwaltschaften Beweismaterial zu, wenn sie dies für opportun hielt.

derStandard.at: Wie läuft die Zusammenarbeit mit osteuropäischen Behörden heutzutage?

Schrimm: Äußerst positiv. Von der Tschechischen Republik werden wir kräftig unterstützt, mit der Ukraine, Weißrussland und Russland arbeiteten wir in den letzten Jahren regelmäßig zusammen.

derStandard.at: Wird auch in Lateinamerika ermittelt, wohin nach 1945 viele NS-Verbrecher mit Beihilfe vatikanischer Würdenträger über die sogenannte "Rattenlinie" entkamen?

Schrimm: Mitarbeiter der Zentralstelle besuchen regelmäßig Archive in Lateinamerika. Begonnen haben wir in Argentinien, dann folgten Uruguay und Chile, derzeit sind zwei- oder dreiköpfige Teams mehrmals im Jahr in Brasilien tätig.

derStandard.at: Können NS-Verbrecher in Lateinamerika damit rechnen, dass sie die dortigen Behörden vor Strafverfolgung schützen?

Schrimm: Vor allem in der 70ern und in den frühen 80er Jahren kam es durchaus vor, dass Ermittlungen blockiert wurden. Ich selber bin seit 1987 in Südamerika tätig und kann sagen, dass die Zusammenarbeit mittlerweile funktioniert, auch Auslieferungen wären heutzutage denkbar.

derStandard.at: Einigen KZ-Wächtern, gegen die nun ermittelt wird, werden wie dem 2011 verurteilten Ukrainer John Demjanjuk keine konkreten Taten vorgeworfen, sondern lediglich ihre "mittelbare Beteiligung" an solchen. Wie begründen Sie dies?

Schrimm: Auch die Beihilfe zu Straftaten ist mit Strafe bedroht. Im Fall Demjanjuk wurde festgestellt, dass bereits nach früheren Urteilen die Anwesenheit in Vernichtungslagern und die irgendwie geartete Förderung dieser Tötungsmaschinerie zur Annahme einer Beihilfe ausreicht.

derStandard.at: Demjanjuk starb ja, bevor das Höchstgericht über seine Berufung entscheiden konnte ...

Schrimm: Wir hätten natürlich gerne eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs gehabt. So müssen wir nämlich immer damit rechnen, dass unsere Arbeit eines Tages durch ein höchstinstanzliches Urteil für gegenstandslos erklärt wird.

derStandard.at: Einer der ursprünglich 49 von der Zentralstelle ermittelten NS-Täter lebt in Österreich. Können Sie mir dazu mehr sagen?

Schrimm: Da weiß ich leider nichts. Fälle, die im Ausland lebende Personen betreffen, leiten wir an das Bundeskriminalamt weiter, das dann die entsprechenden ausländischen Behörden kontaktiert, im konkreten Fall habe ich da noch keine Rückmeldung erhalten.

derStandard.at: Welche Erfahrungen haben Sie mit den österreichischen Behörden gemacht? Efraim Zuroff, der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, hat jagemeint, Österreich habe bei der Verfolgung von NS-Tätern "eine der schlechtesten Bilanzen in der westlichen Welt."

Schrimm: Ich habe dieses Interview gelesen. In den Fällen, wo wir Österreich in den letzten zehn Jahren um Rechtshilfe ersucht haben, wurden wir aber stets unterstützt, ich habe keinen Grund zur Klage. Ich hatte mehrmals Kontakt mit dem Sicherheitsbüro in Wien und habe dort Vernehmungen durchgeführt, erst im Vorjahr war ein Kollege in Innsbruck. 

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