19. September 2013 jungle-world.com
»Lassen wir sie dafür bezahlen«
INTERVIEW: JONATHAN WECKERLE

Sie haben kürzlich die »Operation Last Chance 2« gestartet, um noch lebende Nazi-Täter vor Gericht zu bringen.

Tatsächlich hat die Kampagne schon im Dezember 2011 begonnen, aber wir hatten damals kein Geld für Öffentlichkeitsarbeit, und deshalb hörten die anfangs zahlreichen Hinweise, die wir erhielten, auf. Wir haben eineinhalb Jahre nach Finanzierungsmöglichkeiten gesucht und sind dann mit einer PR-Agentur in Berlin in Kontakt gekommen, die sich auf das Sammeln von Spenden bei deutschen Unternehmen spezialisiert hat. Vier Unternehmen wollten helfen, darunter die Werbeagentur Wall AG, die uns Werbeflächen für 2000 Plakate zur Verfügung gestellt hat.

Wieso gibt es nach der 2002 begonnenen ersten »Operation Last Chance« nun einen zweiten Anlauf?

Was die gesamte Situation in Deutschland – und nur dort – radikal verändert und verbessert hat, war die Verurteilung von John Demjanjuk. Zum ersten Mal seit fast 50 Jahren wurde ein Nazi-Kriegsverbrecher ausschließlich auf der Grundlage verurteilt, dass er zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Position inne hatte. Ein Gericht hatte 1969 so eine Argumentation für unzulässig erklärt, und seitdem konnte man niemanden mehr vor Gericht bringen, wenn man ihm kein spezifisches Verbrechen nachweisen konnte. Und die Leute, die heute noch am Leben sind, waren keine bekannten Figuren. Das machte Anklagen beispielsweise bei Mitgliedern der Einsatzgruppen sehr schwierig, die nach kurzer Zeit zu neuen Tatorten weiterzogen und von denen niemand wusste, wer sie sind.

Die Einsatzgruppen hatten knapp 3 000 Mitglieder, in den Todeslagern haben etwa 7 000 Leute gearbeitet. Wenn man letztere nimmt, dann lautet meine nicht wissenschaftliche Einschätzung, dass davon vielleicht zwei Prozent noch am Leben sind, und dass davon vielleicht die Hälfte aus gesundheitlichen Gründen nicht nicht mehr gerichtsfähig ist. Es bleiben aber immer noch 70 Personen, die tagtäglich Juden ermordet haben. Lassen wir sie dafür bezahlen.

Haben Sie auch Namen von bestimmten Personen, die sie suchen?

Nein, denn als Konsequenz aus dem Dritten Reich wurden in Deutschland Datenschutzgesetze verabschiedet. Die Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hat die Namen, aber als wir darum baten, sie uns für unsere Suchkampagne zu geben, wurde uns das aus diesem Grund verweigert. Die Ironie ist also, dass die Datenschutzgesetze, die individuelle Freiheit schützen sollen, auch Nazi-Kriegsverbrecher schützen.

Wieso kam es im Fall Demjanjuk zum juristischen Durchbruch? Liegt es daran, dass heute sowieso fast alle Kriegsverbrecher tot oder nicht mehr gerichtsfähig sind?

Es gibt zwei Gründe: Zum einen ist Strafverfolgung nun bewältigbar, weil nur noch sehr wenige Täter übrig sind. Der zweite Grund ist ganz einfach, dass die Menschen, die in der Zentralstelle arbeiten, ihren Job verlieren, wenn es keine neuen Fälle mehr gibt. Sie haben also jetzt ein Interesse, so viele Fälle wie möglich zu finden.

Sie sagten, dass das Demjanjuk-Urteil die Situation nur in Deutschland verändert hat. Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Wenn es so ein Präzedenzurteil in Österreich gäbe, würde das alles ändern. Aber Österreich hat viel getan, um Nazis nicht vor Gericht zu stellen. Es gab dort seit über 40 Jahren keinen erfolgreichen Prozess gegen Nazi-Täter. Sollte es in Österreich etwa keine Kriegsverbrecher geben? Das ist absurd.

Wie sieht es in lateinamerikanischen und arabischen Staaten aus, in die nach dem Krieg viele Nazis geflohen sind?

Diese Menschen sind fast alle tot, denn wer dorthin geflohen ist, der musste wirklich fliehen, weil völlig klar war, dass gegen Leute wie Mengele, Eichmann oder Brunner Anklage erhoben würde. Diese Leute hatten im Nazi-Regime hohe Positionen und deshalb meist auch schon damals ein gewisses Alter. Es würde mich sehr wundern, wenn man in Syrien, Ägypten, Brasilien, Argentinien oder Chile jemanden fände, gegen den man einen Prozess führen könnte.

Wie bewerten Sie die deutsche Reaktion auf Ihre Kampagne bislang?

Phantastisch, wirklich phantastisch. Es gab Hunderte von E-Mails und Telefonanrufen, das war sehr überraschend. Nicht immer ging es um Verdächtige, viele wollten etwa wissen, was ihre verstorbenen Verwandten während des Holocaust getan haben, aber uns fehlen die Kapazitäten, um diese Fragen zu beantworten. Sehr viele wollten einfach das Plakat bestellen. Es gab auch Widerworte und Hassbotschaften, aber relativ wenige. Als wir in Österreich einmal eine gebührenfreie Nummer hatten, waren 85 Prozent der Anrufe antisemitisch motiviert. Auch das Medieninteresse war viel größer, als wir zuvor dachten.

Es gab in den Medien auch scharfe Kritik. Der Historiker Michael Wolffsohn meinte etwa, dass man mit Anklagen gegen über 90jährige nur Mitleid mit Menschen wecke, die kein Mitleid verdienen.

Darauf habe ich einfache Gegenargumente: Erstens haben diese Menschen selbst Menschen getötet, die 90 Jahre und älter waren. Zweitens mindert das Verstreichen der Zeit in keiner Weise die Schuld der Mörder. Drittens sollte das Alter Menschen nicht vor Strafverfolgung schützen, ein Mörder wird nicht plötzlich zu einer rechtschaffenen Person, wenn er 90 Jahre alt wird. Viertens verdienen die Opfer, dass die Täter vor Gericht gebracht werden. Fünftens sendet man so die starke Botschaft aus, dass jemand auch noch in hohem Alter verfolgt wird, wenn er solche Taten begeht. Sechstens war es so, das solche Prozesse dem Kampf gegen Leugnung und Umdeutung des Holocaust geholfen haben. Und siebtens sind es die letzten Menschen auf Erden, die Mitgefühl verdienen, denn sie selbst hatten keinerlei Mitgefühl für ihre Opfer. Man sollte die Täter heute nicht als schwache und verletzliche Menschen sehen, sondern als Menschen, die auf der Höhe ihrer Kraft ihre gesamte Energie darauf verwandt haben, Menschen zu ermorden. Deshalb stehen sie vor Gericht, und nicht, weil sie einer alten Frau nicht über die Straße geholfen haben.

Wie Sie eben sagten, sollten die Prozesse gegen Nazi-Täter auch eine Warnung an andere Regime sein.

Im 20. Jahrhundert gab es den deutschen Völkermord in Namibia und den Holocaust, gefolgt von den Massakern in Biafra, Kambodscha, Ruanda, Bosnien und im 21. Jahrhundert dem in Darfur. Teil des Problems ist, dass viel zu viele der Täter aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Wenn das geschehen wäre, wären vielleicht auch spätere Verbrechen nicht oder nicht in diesem Ausmaß geschehen.

Haben der syrische Diktator Bashar al-Assad und seine Gefolgsleute, die gerade Hunderte Menschen mit Giftgas töteten, heute Grund, sich weniger sicher zu fühlen?

Ich wünschte, das wäre so, aber ich glaube es nicht. Die Welt ist ein sehr zynischer Ort. Warum ist es in Ordnung, hunderttausend Menschen mit konventionellen Waffen zu ermorden, aber nicht mit Chemiewaffen? Diese Frage kann man zu Recht stellen, aber es ist wichtig, dass gewisse Restriktionen für die Kriegsführung durchgesetzt werden. In Syrien wurde eine Linie überschritten, und das sollte Konsequenzen haben. Wenn das syrische Regime seine Chemiewaffen abgibt, ist das ein Fortschritt. Aber jemand muss auch für das bezahlen, was passiert ist, und es ist fraglich, ob das geschehen wird.

Nicht nur die letzten Nazi-Täter sind bald nicht mehr am Leben, sondern auch die letzten Überlebenden und Zeitzeugen. Wie soll danach die Erinnerung an den Holocaust aussehen?

Das wichtigste ist, dass der Holocaust so erinnert wird, wie er geschehen ist. Es gibt gerade Bestrebungen, den Narrativ des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges zu ändern. Ich rede nicht von Holocaust-Leugnung, der Kampf dagegen ist zumindest in der westlichen Welt inzwischen gewonnen. Das Hauptproblem sind Bestrebungen aus Osteuropa, erstens die Rolle der zahlreichen aktiven lokalen Kollaborateure herunterzuspielen und zweitens die Vorstellung eines »doppelten Völkermordes« durchzusetzen. Dieser zufolge soll es zwar den Genozid durch Nazis an den Juden gegeben haben, aber parallel dazu auch einen Völkermord durch Kommunisten, darunter Juden, an Menschen in Osteuropa. Die Länder Osteuropas waren im Einflussgebiet der Sowjetunion, die ihre eigene Geschichtsmanipulation betrieb, in der Juden als besondere Opfergruppe und Kollaborateure nicht vorkamen. Nach dem Ende der Sowjetunion hatten die osteuropäischen Länder die Chance, ein wahrhaftigeres Geschichtsbild durchzusetzen, aber stattdessen wird nun von einem »doppelten Völkermord« gesprochen und es werden antikommunistische nationale Helden verehrt, obwohl diese auch Judenmörder waren. Seit dem EU- und Nato-Beitritt dieser Länder nimmt das zu, und niemand hält sie auf. Die Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten ist in diesem Zusammenhang ein Desaster. Gauck hat als einziger Deutscher die »Prager Erklärung« unterzeichnet, in der kommunistische und nazistische Verbrechen gleichgesetzt werden.

jungle-world.com