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02. November 2007
Rechnitz, das ist das Ende der Welt. Eingeklemmt zwischen dem
Geschriebenstein, dem dunklen höchsten Berg des Burgenlands,
und der österreichisch-ungarischen Staatsgrenze, die
man hier nur die „tote Grenze“ nennt, kommt
niemand durch Zufall an diesen Ort. Man kann sich nicht
einmal nach Rechnitz verirren, so weit liegt es von allem
weg; es ist der Ort aus Kafkas „Schloss“. Nur
wer nach Rechnitz will, macht sich auf den Weg über
die einsame, siebzehn Kilometer lange Straße durch
das waldige Gebirge - aber es will ja niemand kommen, das
ist das Schicksal von Rechnitz.
Auch jetzt, da die Marktgemeinde mit ihren dreitausend Einwohnern
wieder Thema in Österreich ist, ja sogar das Ausland
sie auf der Landkarte entdeckt hat, meidet man den Flecken
in der Pannonischen Tiefebene. Die Telefone stehen gleichwohl
nicht still. Journalisten aus Wien, Zürich, Hamburg
rufen an, beim Bürgermeister, bei der örtlichen
Initiative „Refugius“, bei alten Einwohnern,
die vielleicht Zeitzeugen sind - oder gar Zeugen jener
furchtbaren Nacht zum Palmsonntag 1945, der Rechnitz seine
traurige Berühmtheit verdankt. Über das „Ereignis“ steht
auf der lokalen Homepage, dass es „dem Ansehen unserer
Gemeinde unermesslichen Schaden zufügte“. Was
Historiker seit Jahrzehnten beschäftigt, muss man
auf der Website vom Ort des Geschehens lange suchen. Denn
es steht unter „Tourismus/Sehenswertes“.
Vergebliche Suche nach dem Massengrab
Das Ereignis, um das es hier geht, ist die Erschießung
von etwa hundertachtzig jüdischen Zwangsarbeitern wenige
Tage vor Kriegsende. Die Mörder hatten, dem Untergang
entgegentaumelnd, auf dem Rechnitzer Schloss in Anwesenheit
von Graf und Gräfin Batthyány ein Fest gefeiert,
von wo sie gegen Mitternacht in die Felder zogen und ihre
Opfer niedermetzelten. Die Festgäste zählten, so
steht es in den Prozessakten aus der Nachkriegszeit, zu den „zuverlässigsten
Getreuen des nationalsozialistischen Systems“.
Die Juden mussten sich „in der Nacht und
der noch immerhin winterlichen Kälte auf
einer Wiese nackt ausziehen, zu einem Graben gehen
und sich dortselbst niederknien. Dort wurden sie
sodann mittels Kopfschüssen getötet.“ Etwa
drei Stunden soll das Massaker gedauert haben;
danach kehrten die Mörder aufs Schloss zurück,
wo man bis in die Morgenstunden weiterfeierte.
Wenige Tage später marschieren die Russen
in Rechnitz ein, das Schloss geht in Flammen auf,
wer kann, flieht in die Höhlen und Wälder
des Geschriebensteins.
Bis heute sucht man vergeblich nach dem Massengrab
der Ermordeten. Die israelitische Kultusgemeinde
möchte die Toten nach jüdischem Brauch
bestatten. Und auch das österreichische Innenministerium
schickt immer wieder Bagger, die ihre Schaufeln
tief in die Erde rings um den Kreuzstadel graben,
eine kreuzförmige Scheunenruine vor den Toren
der Gemeinde, wo die Toten vermutet werden. Die
Protokolle der Russen, die das Grab im Dezember
1945 gefunden und ausgehoben hatten, ehe sie es
wieder zuschütteten, sind unvollständig.
Und auch während der Prozesse „Rechnitz
I“ und „Rechnitz II“ in den
Jahren 1947 und 1948 wurde das Grab noch einmal
geöffnet und die Leichen vom Dorfarzt untersucht;
seither ist die Stätte der Toten unauffindbar.
Die Rechnitzer wollen vergessen
Wie ein Fremdkörper ruht das dunkle, steinerne
Gemäuer auf dem Feld. Ortsauswärts reicht
der Blick vom Kreuzstadel weit über Felder
und Äcker. Auf der andern Seite, zum Dorf
hin, stehen ein Kieswerk und neuerdings ein Supermarkt.
Es ist, als wolle sich Rechnitz das Mahnmal einverleiben,
auf dass sich der weithin sichtbare, monumentale
Solitär in den gesichtslosen Industriebauten,
die immer näher rücken, verliere.
Die Rechnitzer wollen vergessen, zweifellos. Während
der Prozesse vor sechzig Jahren wurden hier zwei
Hauptzeugen ermordet. Und schon bald nach Kriegsende
strickten sie im Ort die Legende, am Fest und
an der Erschießung hätten nur Auswärtige
teilgenommen. In den Gerichtsakten liest man anderes.
Fragt man den Wirt vom „Schlossberg“,
Franz Cserer, nach dessen Familie - sein Großonkel
hatte beim Prozess ausgesagt -, schüttelt
er stumm den Kopf. Man weiß nichts, will
nichts wissen. Gleichwohl hängt in Cserers
Gaststube ein Bild vom Schloss der Battyhánys,
wie fast überall in den Häusern hier.
Man trauert um den prächtigen Barockbau mit
seinen fast vierhundert Zimmern. Mit dem Verlust
hat der Ort seine Mitte verloren und gleichsam
seine Identität. Der überdimensionierte
Hauptplatz verliert ohne dies steinerne Zeugnis
großer, längst vergangener Zeiten seinen
Sinn, er wirkt amputiert, unvollständig.
Das „Hair Studio Sandra“, der Bestatter „Gangoly“ und
der Baumarkt „Let's do it“, die sich
heute auf dem Schlossgrund befinden, vermögen
die Lücke nicht zu schließen.
Der gräfliche Sitz der Batthyánys
hatte sich indes zum Totenschloss gewandelt nicht
erst mit der monströsen Party, die schon
allein psychotische Entgrenzung bezeugt, einen
Grad an Verirrung, der jenseits aller Moral stand.
Schon vorher wurde auf dem Schloss mit der Bauabschnittsleitung
für den Südostwall ein mörderischer
Plan mitverwirklicht, der Tausende das Leben kostete.
„
So kann es gehen: Da findet sich eine Familie,
die eben noch an der Rüstungspolitik kräftig
verdiente, plötzlich an der Seite eines Erschießungskommandos
wieder“, sagt Paul Gulda, der sich seit
Jahren mit dem Rechnitzer Massenmord befasst.
Dass die Frage nach der Verstrickung der Familien
Batthyány und Thyssen - die Gräfin
stammt aus der deutschen Industriellenfamilie
- nie gestellt wurde, erscheint manchem symptomatisch
für Österreich; gewisse Familien waren
eben „untouchable“, meint Gulda.
Aufarbeitung „im Sinne der Wahrheitsfindung
Stefan Klemp vom Simon Wiesenthal Center Jerusalem
hält das für skandalös. Er vermutet,
dass man die Gräfin in Ruhe ließ,
weil sie geheimdienstlich tätig gewesen
sei: erst für das Deutsche Reich, nach
dem Krieg dann für die Westmächte.
Das Wiesenthal Center hat deshalb die österreichische
Regierung aufgefordert, nicht nur den Massenmord
von Rechnitz zu untersuchen, sondern ebenso
die Rolle der Gräfin. „Auch wenn
sie 1989 gestorben ist“, sagt Klemp, sei
diese Aufarbeitung wichtig „im Sinne der
Wahrheitsfindung“. Vieles bei den Prozessen,
bei denen es zu zwei Verurteilungen kam, erscheine
heute fragwürdig.
In Rechnitz will man von alldem nichts wissen: „Lerne
zu vergessen, was nutzlos ist. Und erinnere dich
mit Liebe an alles Schöne“ - so lautet
der Kalenderspruch, der an diesem Herbsttag an
der Wand des Gemeindebüros hängt. Nichts
anderes freilich taten Graf und Gräfin Batthyány,
die nach 1955 immer wieder in Rechnitz weilten.
Da sie kein Schloss mehr hatten, wohnten die Großgrundbesitzer
fortan in ihrem Jagdhaus oben am Geschriebenstein.
Stolz zieht der „Schlossberg“-Wirt
ein Familienalbum mit vergilbten Fotografien und
Zeitungsartikeln hervor - darunter das Bildnis
der Gräfin Margit mit resoluter Miene und
erlegtem Wild.
Paul Gulda, wie sein Vater Friedrich Gulda Pianist,
begann Anfang der neunziger Jahre, sich über
Rechnitz zu informieren. Dass die in der Folge
entstandene Initiative „Refugius“ sowie
Eduard Erne und Margareta Heinrich bei ihren
Recherchen am Ort auf eine Mauer des Schweigens
stießen, belegt deren Dokumentarfilm „Totschweigen“,
der in jenen Jahren die Suche nach dem Massengrab
begleitete. Als der fertige Film im Ort gezeigt
werden sollte, weigerte sich die Gemeinde, einen
Raum zur Verfügung zu stellen; der Film
wurde deshalb im Pfarrheim gezeigt. Der Rest
der Welt zeigte mehr Interesse. „Totschweigen“ kam
in die Kinos, lief auf Festivals und wurde mit
Preisen ausgezeichnet.
„
Judenfreies“ Burgenland
Bis zur Waldheim-Debatte in den achtziger Jahren
hatte Österreich sich vor den Geistern
der Vergangenheit hinter einer staatsvertraglich
besiegelten Opferrolle verschanzt. Dann brachen
die Dämme. „Ein schmerzhafter Prozess“,
sagt Gulda, „der bis heute andauert: Man
stellt sich nicht oder nur widerwillig.“ Rechnitz
ist dafür ein Gleichnis. Deshalb hofft
Gulda, der selbst jüdische Vorfahren hat,
dass das Grab gefunden wird: „Aus Pietät.
Und um jenen entgegenzutreten, die sich auch
jetzt wieder zu Wort melden und das Gegenteil
behaupten.“
Rechnitz hat nicht nur die Ermordung der jüdischen
Zwangsarbeiter aus Ungarn zu beklagen. Der Ort
selbst zählte bis 1938 zu den größten
jüdischen Gemeinden im Burgenland. Nur der
jüdische Friedhof, der bis ins fünfzehnte
Jahrhundert zurückreicht und heute abgeschlossen
hinter Mauern verborgen liegt, gibt davon noch
Zeugnis. Gleich nach dem „Anschluss“ hatten
hier die Deportationen begonnen, im Oktober 1938
meldete sich das Burgenland „judenfrei“.
Was aus den hundertachtzig Juden aus Rechnitz
wurde, weiß niemand hier. Auch darüber,
und wer heute in ihren Häusern wohnt, spricht
man nicht. Die Synagoge wurde längst abgerissen,
und wo einst die Judenschule war, findet sich
heute der Bauhof zur Entsorgung von Sondermüll.
Der Selbstvergewisserung, der Besinnung auf die
eigenen Wurzeln kommt in einer ethnisch so vielfältigen
Gegend wie Rechnitz eine besondere Rolle zu:
Neben Ungarn und Juden leben seit Jahrhunderten
in diesem äußersten Eck von Österreich
Roma ebenso wie Kroaten, die einst von Maria
Theresia zur Grenzsicherung angesiedelt wurden.
Jeder Zweite trägt einen ungarischen oder
kroatischen Namen, weshalb man stets besonders
bedacht war, als österreichisch zu gelten;
dabei gehörte Rechnitz bis 1921 zu Ungarn
und hieß Rohoncz.
Hakenkreuze am Elternhaus
Bis heute kultivieren die Rechnitzer ihre Verschwiegenheit. „Man
wollte damals nichts hören und will es auch
heute nicht“, sagt Christine Teuschler,
die den burgenländischen Volkshochschulverband
leitet und sich bei „Refugius“ engagiert.
Die gebürtige Rechnitzerin gilt als Querulantin
im Ort. Es hat Hakenkreuze an ihrem Elternhaus
gegeben, Drohanrufe. So verbindlich die Sechsundvierzigjährige
wirkt: Man ahnt, wie unerbittlich sie sein kann. Über
Jahre war das Verhältnis zwischen „Refugius“ und
der Gemeinde zerrüttet; heute arrangiert
man sich.
Ob in den Familien über die Nacht des 24.
März 1945 geredet wurde? „Ja - und
nein.“ Christine Teuschler stockt. Es fällt
ihr nicht leicht, darüber zu sprechen. Dann
erzählt sie, dass eine Verwandte von ihr
bis 1945 als Kindermädchen im Schloss angestellt
war. Diese Theresia Krausler war kurz nach dem
Massaker gemeinsam mit der Gräfin und deren
Gutsverwalter Oldenburg nach Vorarlberg geflohen.
Elf Tage kreuzten sie zu dritt im Auto quer durch
ein im Untergang begriffenes Österreich.
Hans Joachim Oldenburg gilt neben Franz Podezin
als Haupttäter des Massakers; beide wurden
nie gefasst. Christine Teuschler erfuhr erst durch
Eduard Ernes Film „Totschweigen“ davon.
Bis heute hat sie mit ihrer Verwandten nicht darüber
gesprochen.
„
Die Frau Gräfin war ein guter Mensch“
Theresia Krausler sitzt in ihrem rosa verputzten
Häuschen in der Dr.-Karl-Renner-Straße
und schweigt. Einzig das Ticken der Wanduhr
stört die Stille. Es ist kalt, denn die
zweiundachtzig Jahre alte Frau hat keine Heizung,
weshalb sie auch ihr Wasser mit Holz aufwärmen
muss. Die Möbel aus den fünfziger
Jahren sind blank geputzt. Theresia Krausler
fährt mit der Hand über die Tischdecke. „Die
Frau Gräfin war eine Seele von Mensch“,
sagt sie. Und der Herr Oldenburg habe sie aufgenommen
wie ein Kind. Sie sei ja erst achtzehn gewesen,
damals.
Ob sie denn etwas von den etwa dreitausend Zwangsarbeitern
in Rechnitz mitbekommen habe? „Zwangsarbeiter?“,
fragt Theresia Krausler zurück. „Nun
ja, sie mussten auf Stroh schlafen, aber die
Stallungen waren sauber“. Und: „Nein, über
jene Nacht weiß ich nichts. Ich war ein
behütetes Mädchen, darauf haben meine
Eltern geachtet.“ Dann steht sie auf, öffnet
den Schrank und holt ein lilafarbenes Kleid
hervor. Das habe sie getragen, als die Filmleute
sie damals befragten: „Ich bewahre es
auf, so eine schöne Erinnerung.“
Wilhelmina Preinsberger, die Köchin vom Schloss,
hat weniger schöne Erinnerungen. Im Film „Totschweigen“ erzählt
sie, wie sie die Festgäste tanzen und trinken
sah und auch, wie die Mörder gegen Mitternacht
das Fest verließen. Doch Frau Preinsberger
gehe es heute nicht gut, sagt ihre Nichte, Besuch
könne sie nicht empfangen. Und nein, morgen
gehe es auch nicht. Während die Nichte, eine
Frau um die sechzig, so spricht, blickt sie starr
auf den plärrenden Fernseher. Ob sie je mit
der Tante gesprochen habe? Die Frau winkt ab. „Was
hätt' die denn können erzählen?“ Da
schaltet sich der Nachbar ein: „Das waren
nie hundertachtzig Juden“, sagt er, den
Fernseher fest im Blick, „höchstens
dreißig“. Woher er das wisse? Der
Mann schaut auf: „So hat es der Vater immer
gesagt.“
„
Die Nazis, das waren ja alles Professionisten“
So geht es einem immer in Rechnitz. Jeder weiß etwas,
jeder kennt Geschichten, Gerüchte, Gesprächsfetzen,
vom Fest, von der Erschießung oder auch
von jenem Goldschatz der SS, nach dem die Rechnitzer
- anders als nach den Zwangsarbeitern - passioniert
graben. Doch dann bleibt alles Geraune, hingegrummelt
in schwerfälligem Dialekt, der dem Fremden
das Verstehen nicht einfach macht. Dass die Toten
verbrannt wurden, ist eine Theorie im Ort, oder
dass sie woanders liegen. „Vielleicht stehen
heute ja Häuser auf dem Massengrab“,
wird erzählt - und niemand will sich ausmalen,
was das für Folgen hätte. Wie vermag
eine ganze Gemeinde jahrzehntelang zu schweigen?
Eines jedenfalls scheint klar: Solange die Gräber
nicht gefunden sind, gibt es auch für die
Rechnitzer keinen finalen Beweis.
Was in Thomas Bernhards österreichischen
Sittenbildern Literatur schien, ist in Rechnitz
bleierne Wirklichkeit. Es lastet ein ungeheurer
Druck auf dem Ort. „San' Sie die Reporterin
aus Deutschland?“, fragt man misstrauisch
in der Gaststube. Meine Anwesenheit hat sich herumgesprochen,
und der Wirt ist grimmig: Es gibt Beschwerden,
weil ich am Stammtisch sitze. „Das konnte
ich nicht wissen“, verteidige ich mich. „So
etwas weiß man“, entgegnet er schroff.
Man weiß es, und es wird doch nicht gesagt.
Wieder die Rechnitzer Eigenart.
„
Die Juden haben ihre Klagemauer, und wir haben
unsere Schweigemauer“ - das sagt Oskar Freingruber.
Der Siebenundsiebzigjährige lebt mit diesem
Satz; schon vor Jahren sprach er ihn in eine Kamera,
das hat ihn ein bisschen berühmt gemacht.
Mit der Gräfin hatte Freingruber nach dem
Krieg oft zu tun. Sie war häufig Gast in
seiner Wirtschaft oben auf dem Geschriebenstein: „Mit
der konnte man Pferde stehlen“, schwärmt
der Alte. „Nachbarin“ habe er sie
nennen sollen, nicht „Frau Gräfin“;
das fand er toll. Und über alles konnte man
sprechen mit ihr, „nur über die Juden
nicht, die haben ihr Wissen gehabt, oh là là.
Die Nazis, das waren ja alles Professionisten.“
„
Mit der Hysterie müssen wir leben“
Es gibt historische Abhandlungen über das
Massaker, Magisterarbeiten, Zeitungsartikel, den
Film, ein Theaterstück und die Prozesse,
aber hier verharrt man sprachlos, will es aussitzen,
allen zum Trotz. Verunsichert ist man auch, wie
man sich dazu verhalten soll. Und man ist genervt.
Gibt es kein anderes Thema? „Das öffentliche
Interesse schadet uns“, sagt ein junger
Mann, „weil es sich gegen uns wendet.“
Die Veranstaltungen, die „Refugius“ jedes
Jahr am Kreuzstadel zum Gedenken an die Opfer
organisiert, wurde in diesem Jahr zum ersten Mal überhaupt
vom Bürgermeister besucht, von den Bewohnern
kommen wenige. Spricht man sie am Sonntag nach
dem Gottesdienst vor der Kirche an, winken sie
ab. „Das ist längst vergessen“,
sagen sie, oder: „Die, die das gemacht haben,
wurden doch selbst dazu gezwungen.“ Dass
die Rechnitzer auf gewisse Weise harthäutig
seien, sagt Paul Gulda: „Sie sind von bequemer
Denkungsart.“
Engelbert Kenyeri, der Bürgermeister, sitzt
bereits vor der Messe in Anzug und Krawatte im „Schlossberg“.
An den Nachbartischen spielt man Präferanzen,
ein Kartenspiel. Es wird Rotwein getrunken, viel
geraucht. „Ich habe mit ,Refugius' kein
Problem, wir haben halt verschiedene Meinungen“,
sagt der Elektroinstallateur, Jahrgang 1955, der
sein Amt als Ehrenamt versieht. Das Massaker sei
nach derzeitiger Quellenlage erwiesen, das Fest
dokumentiert, aber das wisse man ja nun seit den
Prozessen. „Jetzt gibt es eben wieder eine
neue Hysterie, damit müssen wir leben in
Rechnitz.“ Mit Aufklärung hat das für
ihn nichts zu tun. Journalisten wie David Litchfield,
der Rechnitz zuletzt wieder auf die Tagesordnung
brachte, gehe es nicht um die Toten, sondern um
den eigenen Erfolg. Kenyeri redet sich in Rage: „Die
Filmemacher von ,Totschweigen' haben sich doch
derselben Methoden bedient wie die Propagandafilme
aus der NS-Zeit.“
Man will den Tourismus ankurbeln
Kann man die Rechnitzer verstehen? Diese gestaute
Wut, die sich über so viele Jahre angesammelt
hat und die kein Ventil findet? So viel Leid
hat der Zweite Weltkrieg gebracht, auch Rechnitzer
haben Männer, Väter und Söhne
verloren. Jetzt ist die dritte Generation erwachsen,
und doch kommen Fremde immer wieder nur hierher,
um nach den toten Juden vom Kreuzstadel zu fragen.
Dabei hat man so viel vor in Rechnitz. Man will
den Tourismus ankurbeln, an alte Zeiten anknüpfen,
an die Jahre vor 1938 also, als Wiener und jüdische
Familien zur Sommerfrische anreisten; es gab
Hotels, Schwimmbäder - eben Leben. Heute
stehen viele Häuser leer, die Geschäfte
gehen schlecht, und einige Läden, selbst
am Hauptplatz, stehen zum Verkauf. Die verwitterten
Zettel in den Schaufenstern lassen erkennen,
dass sie nicht erst seit gestern angepriesen
werden.
Wer, fragt man sich, sollte in Rechnitz Urlaub
machen? Was will man hier tun? Rechnitz wirbt
mit einem „Discozug“ und einem Kurs „Malen
mit Pflanzenfarben“. Am Ortseingang informiert
ein Schild über die Teilnahme am Wettbewerb „Gesundes
Dorf 2005“.
Die einzigen Fremden hier sind bosnische und tschetschenische
Asylbewerber, außerdem die Soldaten des
Bundesheers, die zur Grenzsicherung abkommandiert
sind. Und dann gibt es den deutschen Gastarbeiter,
auf ihn ist man stolz: Der arbeitslose Bauingenieur
aus Ost-Berlin hatte fünfzehn Mal das Vorstellungsgespräch
abgesagt, weil er nicht kommen wollte, er war
zuvor nie in Österreich gewesen. Aber man
ließ nicht locker, irgendwann gab er nach.
Nun sitzt er hier, am Ende der Welt.
Die neue Freiheit flößt den Rechnitzern
Angst ein
Dass Rechnitz abgeschieden sei, bestreitet der
Bürgermeister: „Wir haben viele Berufspendler,
die hoch nach Wien fahren.“ Die Hauptstadt
ist nur hundertdreißig Kilometer entfernt.
Und wenn am 21. Dezember die Schengener Grenze
gleich hinter dem Weinberg fällt, die großräumige
Sprerranlage dort abgebaut wird, bekommt Rechnitz
sogar wieder ein Hinterland - ganz wie zu k.
u. k.-Zeiten. Doch die neue Freiheit flößt
den Rechnitzern Angst ein. Sie haben sich eingerichtet
in ihrem toten Winkel, im Schatten des Eisernen
Vorhangs fühlten sie sich behütet.
Auch Schengen versprach noch Sicherheit, obwohl
der Grenzposten zwei Rechnitzer Ortspolizisten
nur zwischen sechs und 22 Uhr bewachen. Wer
wird dann kommen, fragen die Leute, wenn es
die Grenze nicht mehr gibt?
Im Stadtpark rechen Gärtner beim Kriegerdenkmal
das Herbstlaub zusammen. Vor einigen Jahren wurde
die Stätte um ein steinernes Monument erweitert,
das an die Toten vom Kreuzstadel erinnert. „Erfragt
unser Schicksal und vergesst nie“, steht
dort zu lesen.
faz.net
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