Ein 93-Jähriger
klagt gegen die Autobiografie einer früheren Geliebten.
Er will ihr Buch verbieten lassen – und provoziert
mit seiner Anzeige neue Fragen: Welche Rolle hatte er beim
Aufstand in Warschau?
Ein warmer Sommerabend im Juni 1942, die Show ist gerade zu
Ende, Brigitte Horney, der Ufa-Star, sitzt noch auf den Stufen
der Bühnentreppe, da begegnen sie einander zum ersten
Mal, die Sekretärin und der Hauptmann. Es sind unruhige
Zeiten, sie sehnt sich nach Liebe, und er gefällt ihr.
Sie verbringen die Nacht miteinander.
Das ist der Beginn der Geschichte, die jetzt, 65 Jahre später,
zu einem Streit vor dem Landgericht Leipzig führt, zur
Frage, ob ein Buch verboten wird – und nach Langenhagen,
zu einem alten Mann, der um seine Ehre kämpft und dabei
Entsetzliches preisgibt.
Jenen Prager Sommerabend hat eine Dame namens Lisl Urban
in ihrer Autobiografie beschrieben. Sie ist die Sekretärin,
die nach dem Krieg Kunsterzieherin in Thüringen wurde
und heute 93 Jahre alt ist. „Ein ganz gewöhnliches
Leben“ hat sie den Band genannt, in dem sie das Schicksal
einer Sudetendeutschen beschreibt, von der Geburt in Gablonz über
eine scheiternde Ehe und ihre Zeit in Prag bis zur Begegnung
mit dem Hauptmann, dem sie in dem Buch den Namen „Eike“ gibt.
Es sind schwärmerische Passagen über einen „schlanken,
gut gebauten, faltenlosen“ Mann und Träger des „Eisernen
Kreuzes“, der, wie sie schreibt, in Prag seine Erfahrungen
im Partisanenkampf an junge Offiziere weitergeben sollte.
Von ihm bekommt sie im Frühjahr 1943 eine Tochter. Und
in diesem „Eike“ hat sich nun jemand wiedererkannt:
Erich S. aus Langenhagen.
Erich S. war früher Polizist, seit einigen Tagen ist
auch er 93 Jahre alt, und seine Stimme ist gerade von einer
schweren Bronchitis – „tödlich“ nennt
Erich S. sie – geschwächt. Dennoch spricht er
mit großem Zorn, wenn er die Romanze mit Lisl Urban
verächtlich einen „One-Night-Stand“ nennt, „mehr
ist das nicht gewesen“. So zornig ist er, dass er trotz
der verklärenden Passagen Anzeige erstattet hat gegen
Lisl Urban und den Leipziger Dingsda-Verlag, in dem ihr Buch
erscheint. In seinen Persönlichkeitsrechten und seiner
Intimsphäre fühle er sich „gravierend verletzt“,
und dazu listet er auf neun Seiten Fehler auf, die seiner
früheren Geliebten unterlaufen seien.
So habe er zum Beispiel sein „Eisernes Kreuz“ nicht
für den Partisanenkampf erhalten, sondern für einen
Fronteinsatz seiner Polizeikompanie 1942 mit Maschinengewehren,
was er sein „Spezialfach über Jahre bei der Reichswehr“ nennt.
Auch sei er nicht Mitglied der „Schutzstaffel des Führers“ gewesen,
und dass er mit seiner späteren Freundin und Frau, einer
Polin, eine Abtreibung erwogen habe, stimme ebenfalls nicht: „Dies
einem damaligen Hauptmann der Schutzpolizei anzuhängen,
ist eine so verwerfliche Tat, dass auch eine 92-Jährige
eine angemessene Sanktion verdient“, erklärt Erich
S.
Auch gegen den Eindruck, er könne mit Lisl Urban verheiratet
gewesen sein, wehrt er sich drastisch: „Männer
genießen ‚Flittchen‘, aber heiraten sie
nicht.“ Doch was den Dingsda-Verleger Joachim Jahns
und auch Historiker außerdem aufmerken ließen,
sind die Sätze von Erich S. über seine weiteren
Stationen im Krieg – und seine Rolle beim Aufstand
im Warschauer Getto. „Mein Bataillon hatte die äußere
Absperrung zu gewährleisten und später den Aufstand
mit 400 deutschen Deserteuren zu bewältigen“,
schreibt S.
Und was heißt das? Hat Jahns tatsächlich „einen
der letzten noch lebenden Liquidierer des Warschauer Gettos“ identifiziert,
wie er meint? Für Wolfgang Kopitzsch, den Leiter der
Landespolizeischule Hamburg, ist Erich S. kein Unbekannter.
Kopitzsch ist Autor einer Untersuchung über das Polizeireservebataillon
101, jene Einheit, die an zahlreichen Aktionen gegen Juden
beteiligt war. Laut Kopitzschs Unterlagen war S. von Anfang
bis Ende 1943 als Hauptmann der Schutzpolizei Führer
der ersten Kompanie und damit automatisch stellvertretender
Bataillonskommandeur. „Als Kompanieführer am Warschauer
Getto muss er an den Deportationen nach Treblinka beteiligt
gewesen sein“, erklärt Kopitzsch.
Wegen der „Aktion Erntefest“, bei der im November
1943 in Majdanek 18.000 Juden ermordet wurden, wurde nach
dem Krieg in Hamburg auch gegen S. als Beschuldigten ermittelt.
Das Verfahren sei jedoch mangels Beweisen eingestellt worden.
Einen neuen Hinweis gebe es, dass Erich S. schon 1933, also
sehr früh, Mitglied der SS wurde. Laut dem Archiv der
KZ-Gedenkstätte Mauthausen hatte Erich S. die SS-Nr.
160812 – die Nummern wurden chronologisch vergeben
und lassen deshalb auf das Eintrittsdatum schließen.
Das ist die Geschichte, wie die anderen sie über Erich
S. erzählen. Erich S. ist ein wacher, ein offener Mensch,
und auch er will erzählen, nur ist es eine andere Geschichte.
Er stamme aus einer SPD-Familie, erklärt er, er selbst
sei nie Mitglied der NSDAP gewesen und bis auf „die
unvermeidbare Übernahme“ in die Waffen-SS auch
bei keiner anderen Organisation. Er habe einen Cousin gleichen
Namens, „vielleicht bin ich mit dem verwechselt worden“.
Schon bei der Pogromnacht 1938 habe er sich den Befehlen
zur Judenverfolgung widersetzt. Im Frühjahr 1943 sei
er wegen seiner Beziehung mit einer Polin, seiner späteren
Frau, verurteilt worden, und zwar, da der SS-Obersturmführer „Wertesinn
für ehrenhaftes Handeln“ besessen habe, zu „Frontbewährung“ und
späterer Versetzung zur Waffen-SS. „Ich war nie
an Judenverfolgung beteiligt“, sagt er energisch.
Und was war nun seine Rolle im Warschauer Getto? „Ich
habe mich geweigert, einen Häuserblock niederzubrennen.“ Der
Aufstand? „Den haben wir niedergeschlagen, ja.“ Die
Judenverfolgungen mit dem Polizeibataillon 101? „Ich
habe nicht dazugehört.“ Ab März 1943 sei
er im Partisanenkampf gewesen, ein Sonderauftrag. Erich S.
wird lauter, „ich will nicht mehr reden“, sagt
er.
Und was war in Majdanek? „Ich war drei Tage abwesend.
Meine Kameraden haben das nur aus Kilometerdistanz mitbekommen.“ Seine
Aufgabe bei der „Galizischen Grenadierdivision“ der
Waffen-SS, die er in seiner Anzeige selbst erwähnt?
Einer Einheit, die unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung
an Aktionen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt war?
Ja, sagt er, er sei schließlich mit einem Auftrag „nur
zum Totschießen herumgeschickt worden“. Aber
da habe er sich schließlich geweigert, „schwachköpfige
Generäle“ habe er erlebt, und was das ganze Fragen überhaupt
solle. „Wollen Sie mich entnazifizieren?“
Dann beendet Erich S. das Gespräch. Er habe genug geredet,
meint er. Es fing ja nur an mit jenem Sommerabend in Prag,
dem Ärger über seine ehemalige Geliebte, der Mutter
seiner unehelichen Tochter, und dann ist er auf ganz etwas
anderes gekommen, ganz so, als sei alles das, was dann kam,
längst noch nicht erledigt.
haz.de
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