«Die Klage
wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des
Verfahrens.» Es war kurz nach zehn Uhr am gestrigen
Vormittag, als die Richterin im Sitzungssaal 107 des Landgerichts
Leipzig ihr Urteil sprach. Erich S. ist mit dem Versuch gescheitert,
die Memoiren seiner früheren Geliebten Lisl Urban aus
dem Verkehr zu ziehen. Von fern wirkt der Fall so wenig des
Aufhebens wert wie das strittige Buch, das im Titel «Ein
ganz gewöhnliches Leben» zu erzählen verspricht.
Der Dingsda-Verlag, wo die auf drei Bände angelegte
Autobiografie von Lisl Urban erscheint, ist klein, und die
Autorin, die zu DDR-Zeiten als Kunstlehrerin im Internat
Wickersdorf unterrichtete, hat zwar unter ihren ehemaligen
Schülern viele Fans (darunter den ebenfalls beklagten
Lektor des Dingsda-Verlages), doch in der Literatur ist sie
eine Unbekannte.
Erster Fall nach «Esra»
Gleichwohl täuscht der Eindruck, man habe es hier bloss
mit einer Marginalie der Literaturgeschichte zu tun. Die
jüngsten Diskussionen um die Kunstfreiheit wie auch
manche zeithistorische Debatte klingen im Streit um Lisl
Urbans Buch erneut an. Zwei Monate ist es her, dass das deutsche
Bundesverfassungsgericht das Verbot von Maxim Billers Roman «Esra» in
letzter Instanz bestätigt hat. Kritiker malten daraufhin
den Teufel einer verschärften Zensur an die Wand. Die
Behandlung von Frau Urbans Lebensgeschichte durch das Landgericht
Leipzig kann als erste Probe auf diese Befürchtungen
genommen werden. Zu unserer Beruhigung lautet das Ergebnis:
Justitia bleibt bei ihrem alten Kurs, den Konflikt zwischen
Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht von Fall zu Fall
mit Augenmass auszubalancieren.
Erich S. wehrt sich dagegen, dass Lisl Urban ihrer beider
Liaison den Anstrich einer auch von ihm mit Leidenschaft
und Ernst erfüllten Liebe gibt. Er findet dadurch die
Beziehung zu seinen späteren Ehefrauen herabgesetzt. «Viele
Bänke sind an den Strassen zu Prags Vororten hin, viele
Bänke – und wir nutzen jede, um uns zu küssen»,
schreibt die Autorin über den ersten gemeinsamen Abend,
den sie, siebenundzwanzig Jahre alt, «Tippmamsell» bei
der Gestapo, eine gescheiterte Ehe im Rücken und liebeshungrig
wie die «Hasen» «am Feldrain», mit
dem schmucken Hauptmann verbringt, damals, im schwülwarmen
Juni des Kriegsjahr 1942. Erich S., der im Buch stets verfremdend
Eike genannt wird, kann eine solche Darstellung nicht gelten
lassen. Sie verletze ihn, heisst es in der Klageschrift, «da
er sich bis heute, aufgrund seiner Erziehung, selbst mit
seiner Ehefrau, nicht zu Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit
hinreissen lässt».
Es gibt im Schriftsatz des Klägers mehrere Einwendungen
solcher Art, die mit Ehe-Empfindlichkeiten argumentieren.
Auch beanstandet Erich S. angeblich falsche Darstellungen
des historischen Geschehens. So will er nichts davon wissen,
dass er von einem Wirtssohn Essensmarken als Geschenk angenommen
oder eine Urkundenfälschung begangen habe, um eine polnische
Freundin, seine spätere Frau, aus dem Arbeitslager herauszuholen.
Wer seine Klageschrift und parallel dazu das inkriminierte
Buch liest, begegnet dem kuriosen Umstand, dass Lisl Urban
noch immer von ihrem «Eike» schwärmt, Erich
S. aber eben jene Passagen, die ihn als Mann mit Mut und
Herz jenseits der militärischen Pflichterfüllung
zeigen, als ehrverletzend anprangert. Die Leipziger Richterin
kommentierte denn auch gestern, das Buch verbreite über
den Kläger weder negative Eigenschaften noch intime
Details; vielmehr werde der negative Zug erst durch unangemessene
Interpretationen in den Text hineingetragen.
Lisl Urban und Erich S. sind heute 93 Jahre alt. Sie hat
eine Tochter von ihm, die er erst nach dem dritten Vaterschaftstest
anerkannte, vorher aber ein halbes Jahrhundert lang als «Kuckucksei» ansah,
das Lisl ihm nur unterschieben wollte, um ihn zu erpressen
und zur Heirat zu bewegen. Von der Mutter seiner Tochter,
der Geliebten aus Prager Tagen, spricht der Mann, der so
viel auf seine Ehre hält, in grob ehrverletzender Weise.
Man muss in diesen Abgrund des Erich S., soweit Familiäres
betroffen ist, nicht schauen. Aber da gähnt noch ein
anderes Ungeheuer. Erich S. war in der SS, und zwar, wie
sich mittlerweile herausgestellt hat, wohl schon seit 1933
oder 1934. Er hat die Zugehörigkeit in der ersten Klageschrift
gegen Lisl Urban und ihren Verlag zunächst bestritten,
damit jedoch – denn im Buch kommt die SS explizit gar
nicht vor – schlafende Hunde geweckt. Im Zuge seiner «Richtigstellung» historischer
Fakten hat er in seltsamem Stolz einbekannt, als Bataillonsführer
die «äussere Absperrung» des Warschauer
Ghettos «gewährleistet» zu haben.
Ungeklärte Rollen
Durch den Rechtsstreit mit Erich S. ist Joachim Jahns, einst
Geschichtslehrer, heute Verleger des Dingsda-Verlags, zum
Rechercheur geworden. Er hat Fotos gefunden, die nach seinem
Urteil nahelegen, in Erich S. einen der Liquidatoren des
Warschauer Ghettos zu sehen. Zur Debatte steht auch die
Rolle von Erich S. als Kompanieführer im berüchtigten
Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101. Die Exzesse dieser
Einheit im Distrikt Lublin, wohin 1943 auch Erich S. versetzt
war, hat der Holocaust-Forscher Christopher Browning festgehalten.
Bei Browning findet sich nichts zu Erich S., und auch dem
Simon-Wiesenthal-Center galt er bis vor kurzem eher als
Wehrkraftzersetzer denn als möglicher Kriegsverbrecher.
Im Internet, das seinen vollen Namen kennt, hätte
man zu Erich S. noch vor einem Jahr nichts Ehrenrühriges
gefunden. Mittlerweile verweisen zig Websites auf den «SS-Mann»,
der sich beim Versuch, ein Buch verbieten zu lassen, «selbst
outete». Noch bevor gestern das Leipziger Urteil
erging, hatte Erich S. den Kampf um sein Lebensbild bereits
verloren.
nzz.ch
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