01.11.13 welt.de
Die Mörder von der SS kamen mit Marschmusik
Von Sven Felix Kellerhoff

Im November 1943 ließ SS-Chef Himmler die KZs im Generalgouvernement liquidieren. Der "Aktion Erntefest" fielen 40.000 Menschen zum Opfer. Eine neue Studie zeigt detailliert die Rolle der Polizei.

Wer etwas tarnt, hat etwas zu verbergen. Doch Salven aus Maschinenpistolen lassen sich nur sehr schwer übertönen. Und selbst wenn überlaute Musik das charakteristische Hämmern solcher Waffen verdecken kann, so weiß doch jeder, der solchen Lärm hört: Gerade muss etwas passieren, was geheim bleiben soll.

Mindestens zwei Lautsprecherwagen des Propagandaamtes der NSDAP Lublin waren am 3. November 1943 ins Feld V des Konzentrationslagers Majdanek geschickt worden. Aus ihren Hörnern dröhnten mit maximaler Lautstärke Schlager und Tanzmusik. Von Heinz Rühmann etwa der schmissige Marsch "Wozu ist die Straße da", von Erich Heyn das Soldatenlied "Es geht alles vorüber".

Die Musik war "so laut, dass man es in ganz Lublin hören konnte", sagte ein Zeuge später gegenüber einem Ermittler der DDR-Staatssicherheit aus. Dabei waren es bis zum Stadtzentrum der ostpolnischen Stadt rund fünf Kilometer.

Durchschaubar dumm stellte sich 1963 der ehemalige Gendarm Johann L. bei seiner Vernehmung in Münster: "Wir konnten uns nicht erklären, was mit dem Abspielen der lautstarken Musik bezweckt wurde."

Nackte kamen aus der Baracke

Viele seiner Kameraden wussten es besser: "Mit dieser Musik wurden die Schüsse übertönt", gab der Koch Hans R. an. Und der Gendarm Otto H. wusste genau, was vor sich ging: "Früh morgens, nachdem die Aufstellung vollzogen war, begann aus Lautsprechern laute Schallplattenmusik. Ich erinnere mich vor allem, dass Märsche gespielt wurden. Dazwischen hörte ich das Schießen aus Maschinenwaffen."

Albin Z., ebenfalls als Gendarm vor Ort im Einsatz, wusste zu berichten: "Mit Beginn des Tageslichts setzte überstarke Lautsprechermusik ein. Es wurden überwiegend Märsche gespielt. Gleichzeitig kamen nackte Menschen aus einer Baracke heraus und mussten durch unsere Absperrung hindurchlaufen zu einer Grube, die sich am Ende unserer Aufstellung und etwa hundert bis 150 Meter von der genannten Baracke entfernt befand."

Auch im KZ Majdanek war längst bekannt, was vor sich ging. Die Aufseherin Erna Pfannstiel beklagte sich in ihrer Vernehmung bei der Stasi über die Folgen: "Schon in den frühen Vormittagsstunden hörten wir plötzlich vom rückwärtigen Teil des Lagers her fürchterliches Schießen. Es war dies so erschreckend und nervenzermürbend für mich, dass ich einen Nervenzusammenbruch erlitt."

Der Grund für die nervliche Belastung sei gewesen, dass die jüdischen Gefangenen des Frauenlagers die SS-Aufseherinnen "nach dem Grund der Schießerei" gefragt hätten: "Die Jüdinnen waren furchtbar ängstlich und befürchteten, dass sie ebenfalls geholt und erschossen werden würden."

Größeres Massaker als Babi Jar

Tatsächlich fielen die meisten jüdischen Insassen des Konzentrationslagers Majdanek und dreier Zwangsarbeitslager in Lublin an diesem "blutigen Mittwoch" und dem folgenden Tag dem Massenmord zum Opfer. Sie wurden in zuvor angelegte Gräben getrieben und von oben erschossen. Oder sie mussten sich in Gruben legen, oft auf die noch warmen Leichname anderer Ermordeter, und starben dann durch Genickschuss.

Allein auf dem Feld V in Majdanek starben am 3. und 4. November 1943 zwischen 15.000 und 18.000 Menschen. Gleichzeitig wurden an anderen Stellen im besetzten Polen KZs und Arbeitslager "geräumt", die Insassen erschossen. Insgesamt rund 40.000 Juden starben an diesen beiden Tagen. Es war ein noch größeres Massaker als in der Schlucht Babi Jar bei Kiew, wo im September 1941 33.771 Juden erschossen worden waren.

Unter dem Tarnnamen "Aktion Erntefest" vorbereitet, zog SS-Chef Heinrich Himmler damit die mörderische Konsequenz aus den zurückliegenden Aufständen in verschiedenen Vernichtungslagern und Ghettos. Im Mai 1943 hatte der Aufstand im Warschauer Ghetto die Deportationen von Juden wochenlang verzögert, im August kämpften Mitglieder des jüdischen Sonderkommandos in Treblinka und im Oktober in Sobibor verzweifelt gegen ihre absehbare Ermordung.

Daraufhin hatte Hans Frank, der "Generalgouverneur" des besetzten Zentralpolens, bei einer eigens einberufenen Besprechung in Krakau mitgeteilt, die "Judenlager" stellten "eine akute Gefahr für die Sicherheit der Deutschen" dar. Also sollten sie liquidiert werden, auch wenn die meisten inhaftierten Juden für die Rüstungsindustrie schuften mussten.

Abschluss der "Aktion Reinhardt"

Der strikt geheim geplante Massenmord wurde zum "Höhepunkt des Himmlerschen ,Kreuzzugs' zur Vernichtung des polnischen Judentums", urteilte der britische Historiker Christopher Browning schon 1992 über das blutige Ende der sogenannten "Aktion Reinhardt", in der seit Juli 1942 mehr als zwei Millionen Juden und rund 50.000 Roma im Generalgouvernement ermordert worden waren. Dennoch gab es zu der abschließenden "Aktion Erntefest" bisher erstaunlich wenig Forschungen. Das ändert jetzt Stefan Klemp.

In der Schriftenreihe der verdienstvollen Dokumentationsstelle "Villa ten Hompel" in Münster, die sich mit der Verstrickung der deutschen Polizei in die Verbrechen des Nationalsozialismus beschäftigt, hat er seine Studie "Mit Musik in den Tod. Rekonstruktion eines Massenmordes" publiziert. Detailliert wie nie zuvor sind jetzt Ablauf und Täter dieser Mordaktion bekannt.

Dazu hat Klemp die zahlreichen Aussagen von Zeugen ausgewertet, die im Rahmen von Ermittlungsverfahren entstanden sind. Vor allem im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, aber auch bei der Stasiunterlagen-Behörde und im Bundesarchiv wurde er fündig.

Erstaunlich ist, wie viele Aussagen zum Geschehen bei der "Aktion Erntefest" existierten – und wie wenig juristische Konsequenzen daraus gezogen worden sind. Der Russlanddeutsche Alfons Götzfried etwa, 1997 angeklagt und voll geständig, erhielt zwar 1999 eine Haftstrafe von zehn Jahren, die er aber wegen einer Strafe in der Sowjetunion nicht antreten brauchte.

"Schließlich ist mir schlecht geworden"

Dabei hatte Götzfried ganz offen gestanden: "Bei dieser Erschießung war ich selbst dabei. Ich habe selbst mitgeschossen. Die Juden mussten sich an Gräben aufstellen, und wir haben auf sie geschossen." Das war selbst dem damals 23-Jährigen zu viel: "Schließlich ist mir schlecht geworden, so dass ich nicht mehr schießen musste. Ich habe dann die Magazine der Gewehre mit Patronen gefüllt."

Erstaunlich ist, dass sorgfältige Archivarbeit auch nach 70 Jahren noch vielsagende Details zu Tage fördern kann. So kann Klemp aufgrund des Vergleichs verschiedener Aussagen die – allerdings tödliche – Gegenwehr eines Juden rekonstruieren.

Der 1921 geborene Elsässer Anton B. hatte sich mit 20 Jahren freiwillig zur Hilfspolizei nach Stuttgart gemeldet. Eingesetzt als Wachposten bei Juden, die sich vor der Erschießung ausziehen mussten, wurde er gegen 15 Uhr an jenem 3. November 1943 plötzlich attackiert. Ein jüdischer Mann zog mit dem Mut der Verzweiflung ein verstecktes Rasiermesser und schnitt B. in die Nase. In der offiziellen Meldung ist sogar die Rede von drei Verletzungen, die Anton B. erlitten habe, bevor er den Angreifer kurzerhand tötete.

Anton B. bekam später sogar das Verwundeten-Abzeichen. Doch die tatsächlichen Umstände seiner "Verletzung" verschwiegen seine Vorgesetzten doch lieber: Als Datum wurde der 3. Oktober 1943 angegeben. Weiter hieß es, Anton B. sei im Rahmen "einer militärischen Aktion von einem Banditen durch fünf Messerstiche am Kopf verletzt worden. Trotz seiner Verwundung erledigte er den Banditen im Nahkampf. Er wurde in der Polizeilichen Krankenanstalt ambulant behandelt."

Übrigens wurde auch Anton B. nie befragt. Er war nach 1945 ins Elsass zurückgekehrt, eine Adresse aus dem Jahr 1962 war deutschen Ermittlern bekannt. Auch französische Behörden interessierten sich nicht für ihn. Als dann doch die Zentralstelle Dortmund, in Nordrhein-Westfalen zuständig für die Verfolgung von NS-Verbrechen, nach Anton B. suchte, war es zu spät: Er war 1995 gestorben.

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