Im November 1943 ließ SS-Chef Himmler
die KZs im Generalgouvernement liquidieren. Der "Aktion
Erntefest" fielen 40.000 Menschen zum Opfer. Eine
neue Studie zeigt detailliert die Rolle der Polizei.
Wer etwas tarnt, hat etwas zu verbergen. Doch Salven aus
Maschinenpistolen lassen sich nur sehr schwer übertönen.
Und selbst wenn überlaute Musik das charakteristische
Hämmern solcher Waffen verdecken kann, so weiß doch
jeder, der solchen Lärm hört: Gerade muss etwas
passieren, was geheim bleiben soll.
Mindestens zwei Lautsprecherwagen des Propagandaamtes
der NSDAP Lublin waren am 3. November 1943 ins Feld V des
Konzentrationslagers Majdanek geschickt worden. Aus ihren
Hörnern dröhnten mit maximaler Lautstärke
Schlager und Tanzmusik. Von Heinz Rühmann etwa der
schmissige Marsch "Wozu ist die Straße da",
von Erich Heyn das Soldatenlied "Es geht alles vorüber".
Die Musik war "so laut, dass man es in ganz Lublin
hören konnte", sagte ein Zeuge später gegenüber
einem Ermittler der DDR-Staatssicherheit aus. Dabei waren
es bis zum Stadtzentrum der ostpolnischen Stadt rund fünf
Kilometer.
Durchschaubar dumm stellte sich 1963 der ehemalige Gendarm
Johann L. bei seiner Vernehmung in Münster: "Wir
konnten uns nicht erklären, was mit dem Abspielen
der lautstarken Musik bezweckt wurde."
Nackte kamen aus der Baracke
Viele seiner Kameraden wussten es besser: "Mit dieser
Musik wurden die Schüsse übertönt",
gab der Koch Hans R. an. Und der Gendarm Otto H. wusste
genau, was vor sich ging: "Früh morgens, nachdem
die Aufstellung vollzogen war, begann aus Lautsprechern
laute Schallplattenmusik. Ich erinnere mich vor allem,
dass Märsche gespielt wurden. Dazwischen hörte
ich das Schießen aus Maschinenwaffen."
Albin Z., ebenfalls als Gendarm vor Ort im Einsatz, wusste
zu berichten: "Mit Beginn des Tageslichts setzte überstarke
Lautsprechermusik ein. Es wurden überwiegend Märsche
gespielt. Gleichzeitig kamen nackte Menschen aus einer
Baracke heraus und mussten durch unsere Absperrung hindurchlaufen
zu einer Grube, die sich am Ende unserer Aufstellung und
etwa hundert bis 150 Meter von der genannten Baracke entfernt
befand."
Auch im KZ Majdanek war längst bekannt, was vor sich
ging. Die Aufseherin Erna Pfannstiel beklagte sich in ihrer
Vernehmung bei der Stasi über die Folgen: "Schon
in den frühen Vormittagsstunden hörten wir plötzlich
vom rückwärtigen Teil des Lagers her fürchterliches
Schießen. Es war dies so erschreckend und nervenzermürbend
für mich, dass ich einen Nervenzusammenbruch erlitt."
Der Grund für die nervliche Belastung sei gewesen,
dass die jüdischen Gefangenen des Frauenlagers die
SS-Aufseherinnen "nach dem Grund der Schießerei" gefragt
hätten: "Die Jüdinnen waren furchtbar ängstlich
und befürchteten, dass sie ebenfalls geholt und erschossen
werden würden."
Größeres Massaker als Babi Jar
Tatsächlich fielen die meisten jüdischen Insassen
des Konzentrationslagers Majdanek und dreier Zwangsarbeitslager
in Lublin an diesem "blutigen Mittwoch" und dem
folgenden Tag dem Massenmord zum Opfer. Sie wurden in zuvor
angelegte Gräben getrieben und von oben erschossen.
Oder sie mussten sich in Gruben legen, oft auf die noch
warmen Leichname anderer Ermordeter, und starben dann durch
Genickschuss.
Allein auf dem Feld V in Majdanek starben am 3. und 4.
November 1943 zwischen 15.000 und 18.000 Menschen. Gleichzeitig
wurden an anderen Stellen im besetzten Polen KZs und Arbeitslager "geräumt",
die Insassen erschossen. Insgesamt rund 40.000 Juden starben
an diesen beiden Tagen. Es war ein noch größeres
Massaker als in der Schlucht Babi Jar bei Kiew, wo im September
1941 33.771 Juden erschossen worden waren.
Unter dem Tarnnamen "Aktion Erntefest" vorbereitet,
zog SS-Chef Heinrich Himmler damit die mörderische
Konsequenz aus den zurückliegenden Aufständen
in verschiedenen Vernichtungslagern und Ghettos. Im Mai
1943 hatte der Aufstand im Warschauer Ghetto die Deportationen
von Juden wochenlang verzögert, im August kämpften
Mitglieder des jüdischen Sonderkommandos in Treblinka
und im Oktober in Sobibor verzweifelt gegen ihre absehbare
Ermordung.
Daraufhin hatte Hans Frank, der "Generalgouverneur" des
besetzten Zentralpolens, bei einer eigens einberufenen
Besprechung in Krakau mitgeteilt, die "Judenlager" stellten "eine
akute Gefahr für die Sicherheit der Deutschen" dar.
Also sollten sie liquidiert werden, auch wenn die meisten
inhaftierten Juden für die Rüstungsindustrie
schuften mussten.
Abschluss der "Aktion Reinhardt"
Der strikt geheim geplante Massenmord wurde zum "Höhepunkt
des Himmlerschen ,Kreuzzugs' zur Vernichtung des polnischen
Judentums", urteilte der britische Historiker Christopher
Browning schon 1992 über das blutige Ende der sogenannten "Aktion
Reinhardt", in der seit Juli 1942 mehr als zwei Millionen
Juden und rund 50.000 Roma im Generalgouvernement ermordert
worden waren. Dennoch gab es zu der abschließenden "Aktion
Erntefest" bisher erstaunlich wenig Forschungen. Das ändert
jetzt Stefan Klemp.
In der Schriftenreihe der verdienstvollen Dokumentationsstelle "Villa
ten Hompel" in Münster, die sich mit der Verstrickung
der deutschen Polizei in die Verbrechen des Nationalsozialismus
beschäftigt, hat er seine Studie "Mit Musik in
den Tod. Rekonstruktion eines Massenmordes" publiziert.
Detailliert wie nie zuvor sind jetzt Ablauf und Täter
dieser Mordaktion bekannt.
Dazu hat Klemp die zahlreichen Aussagen von Zeugen ausgewertet,
die im Rahmen von Ermittlungsverfahren entstanden sind.
Vor allem im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, aber auch
bei der Stasiunterlagen-Behörde und im Bundesarchiv
wurde er fündig.
Erstaunlich ist, wie viele Aussagen zum Geschehen bei
der "Aktion Erntefest" existierten – und
wie wenig juristische Konsequenzen daraus gezogen worden
sind. Der Russlanddeutsche Alfons Götzfried etwa,
1997 angeklagt und voll geständig, erhielt zwar 1999
eine Haftstrafe von zehn Jahren, die er aber wegen einer
Strafe in der Sowjetunion nicht antreten brauchte.
"Schließlich ist mir schlecht geworden"
Dabei hatte Götzfried ganz offen gestanden: "Bei
dieser Erschießung war ich selbst dabei. Ich habe
selbst mitgeschossen. Die Juden mussten sich an Gräben
aufstellen, und wir haben auf sie geschossen." Das
war selbst dem damals 23-Jährigen zu viel: "Schließlich
ist mir schlecht geworden, so dass ich nicht mehr schießen
musste. Ich habe dann die Magazine der Gewehre mit Patronen
gefüllt."
Erstaunlich ist, dass sorgfältige Archivarbeit auch
nach 70 Jahren noch vielsagende Details zu Tage fördern
kann. So kann Klemp aufgrund des Vergleichs verschiedener
Aussagen die – allerdings tödliche – Gegenwehr
eines Juden rekonstruieren.
Der 1921 geborene Elsässer Anton B. hatte sich mit
20 Jahren freiwillig zur Hilfspolizei nach Stuttgart gemeldet.
Eingesetzt als Wachposten bei Juden, die sich vor der Erschießung
ausziehen mussten, wurde er gegen 15 Uhr an jenem 3. November
1943 plötzlich attackiert. Ein jüdischer Mann
zog mit dem Mut der Verzweiflung ein verstecktes Rasiermesser
und schnitt B. in die Nase. In der offiziellen Meldung
ist sogar die Rede von drei Verletzungen, die Anton B.
erlitten habe, bevor er den Angreifer kurzerhand tötete.
Anton B. bekam später sogar das Verwundeten-Abzeichen.
Doch die tatsächlichen Umstände seiner "Verletzung" verschwiegen
seine Vorgesetzten doch lieber: Als Datum wurde der 3.
Oktober 1943 angegeben. Weiter hieß es, Anton B.
sei im Rahmen "einer militärischen Aktion von
einem Banditen durch fünf Messerstiche am Kopf verletzt
worden. Trotz seiner Verwundung erledigte er den Banditen
im Nahkampf. Er wurde in der Polizeilichen Krankenanstalt
ambulant behandelt."
Übrigens wurde auch Anton B. nie befragt. Er war
nach 1945 ins Elsass zurückgekehrt, eine Adresse aus
dem Jahr 1962 war deutschen Ermittlern bekannt. Auch französische
Behörden interessierten sich nicht für ihn. Als
dann doch die Zentralstelle Dortmund, in Nordrhein-Westfalen
zuständig für die Verfolgung von NS-Verbrechen,
nach Anton B. suchte, war es zu spät: Er war 1995
gestorben. welt.de
|