20.02.2014 spiegel.de
Baden-Württemberg: Drei mutmaßliche Auschwitz-Wachmänner verhaftet
Von Benjamin Schulz

Die Beschuldigten sind hochbetagt, die Vorwürfe gravierend: Ermittler haben Wohnungen von neun mutmaßlichen NS-Verbrechern durchsucht, die Männer sollen im KZ Auschwitz Beihilfe zum Mord geleistet haben. Drei von ihnen sitzen jetzt in Baden-Württemberg in Untersuchungshaft.

Hamburg - 69 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs scheint die Vergangenheit einige frühere mutmaßliche SS-Mitglieder einzuholen. Am Mittwoch haben Ermittler der Landeskriminalämter Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen Wohnungen von neun Personen durchsucht. Die Beschuldigten sind zwischen 88 und 94 Jahre alt.

Sie sollen während der NS-Zeit im Konzentrationslager Auschwitz Dienst getan haben, ihnen wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. In dem KZ bedeutete das etwa das Zusammentreiben der Lagerinsassen, die Selektion an der Rampe, das Hineintreiben in die Gaskammern.

In Baden-Württemberg durchsuchten Ermittler die Wohnungen von sechs Beschuldigten aus den Kreisen Rottweil, Freiburg, Ludwigsburg, Karlsruhe sowie dem Enzkreis und dem Rhein-Neckar-Kreis. In fünf Wohnungen fanden die Beamten Unterlagen - was genau, will die Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht sagen.

Drei Männer im Alter von 88, 92 und 94 Jahren sind in einem Justizvollzugskrankenhaus in Untersuchungshaft. Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE handelt es sich um die Einrichtung Hohenasperg nordwestlich von Ludwigsburg. "Bei den dreien sehen wir einen dringenden Tatverdacht", sagt Claudia Krauth von der Staatsanwaltschaft Stuttgart. "Das Ziel ist nachzuweisen, dass sie in Auschwitz waren und dass sie Beihilfe zum Mord geleistet haben."

Beschuldigte streiten Beteiligung an Tötungshandlungen ab

Nach Angaben der Ermittler äußerte sich nur der 88-Jährige aus dem Enzkreis. Er gab demnach an, in Auschwitz gewesen zu sein, bestritt aber eine konkrete Tatbeteiligung. Für den 92-Jährigen aus dem Rhein-Neckar-Kreis hat Rechtsanwalt Steffen Lindberg das Mandat übernommen. "Noch prüfen wir die Akten, Näheres möchte ich derzeit nicht sagen", sagt der Verteidiger.

Keine Angaben machten zwei Beschuldigte in Hessen. Die 89 und 92 Jahre alten Männer aus dem Rhein-Main-Gebiet sollen von 1942 bis 1944 laut der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main zur Wachmannschaft in Auschwitz gehört haben. Bei ihnen fanden Ermittler Papiere und Fotografien, die nun ausgewertet werden.

Auch die Wohnung eines weiteren 92-jährigen Beschuldigten aus dem Landkreis Lippe in Nordrhein-Westfalen wurde durchsucht. Er gab an, ab Anfang 1942 als SS-Mann in Auschwitz gewesen, aber an Tötungshandlungen nicht beteiligt gewesen zu sein. "Wie lange er in Auschwitz war, müssen wir noch klären", sagt Andreas Brendel, der bei der Staatsanwaltschaft Dortmund die Zentralstelle für NS-Verfahren leitet. Belastendes Material fanden die nordrhein-westfälischen Ermittler nicht. Es werde weiter ermittelt, sagt Brendel. So müssten etwa Zeugenaussagen aus abgeschlossenen NS-Verfahren gesichtet werden.

Ermittlungen gegen Täter werden immer schwieriger

Die Beschuldigten gehören zu einer Gruppe von etwa 30 Personen. Zu ihnen hatte die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg im vergangenen Herbst den zuständigen Staatsanwaltschaften Ermittlungsunterlagen übergeben. "Bei 30 Personen, die meisten über 90 Jahre alt, war uns klar, dass nur relativ wenige strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können", sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle. "Wenn ein paar übrig bleiben, bin ich zufrieden, mehr habe ich mir nicht erhofft."

Die Zentrale Stelle ist eine von den Bundesländern betriebene Vorermittlungsbehörde für Recherchen zu NS-Verbrechen. Wenn sie Verdächtige identifiziert hat, bei denen Chancen auf eine Anklage bestehen, gibt sie diese Fälle an die Staatsanwaltschaften ab.

Dass viele Fälle nun in den Fokus der Ermittler geraten oder noch einmal neu untersucht werden, ist auch einem Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung zu verdanken. Demnach ist es nicht mehr notwendig, Tätern bei Nazi-Verbrechen Einzeltaten nachzuweisen, wie es über viele Jahre juristische Praxis war - und nun, fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende, kaum noch möglich ist.

Neue Chancen durch Demjanjuk-Urteil

In Juristenkreisen und der Öffentlichkeit hatte der Fall John Demjanjuk Signalwirkung für diesen Wandel. 2011 verurteilte das Landgericht München den ehemaligen KZ-Wächter wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft. Als Beweis sah das Gericht es als ausreichend an, dass Demjanjuk zur fraglichen Zeit in einem Vernichtungslager tätig war, auch ohne Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung.

Seit dem Demjanjuk-Urteil schätzen Ermittler die Chancen auf Verurteilungen höher ein und dehnen ihre Vorermittlungen aus. "Das Demjanjuk-Urteil hat dazu geführt, dass viel Infomaterial neu überprüft wird", sagt Staatsanwalt Brendel.

Allein: Demjanjuk hatte Revision eingelegt und starb Mitte März 2012, ehe der Bundesgerichtshof darüber befinden konnte. So wurde das Münchner Urteil nie rechtskräftig. Und es war für reine Vernichtungslager wie Sobibor ausgelegt, wo Demjanjuk Dienst tat. Auschwitz war dagegen nicht nur Vernichtungs-, sondern auch Arbeitslager. Ob allein der Nachweis, dass jemand in Auschwitz Dienst tat, für einen Schuldspruch ausreicht, ist deshalb fraglich.

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