16.07.2015 12:42 Uhr ndr.de
Gröning muss vermutlich Hunderttausende zahlen

Auf den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning kommen nach der Verurteilung durch das Landgericht Lüneburg neben einer vierjährigen Haftstrafe voraussichtlich auch erhebliche finanzielle Belastungen zu. Der 94-Jährige muss die gesamten Verfahrenskosten übernehmen. Wie Gerichtssprecherin Frauke Albers auf Anfrage von NDR.de mitteilte, dürften diese bei "mehreren Hunderttausend Euro" liegen. "Die genaue Summe lässt sich derzeit noch nicht ermitteln, da vieles noch nicht abgerechnet wurde", sagte Albers. Ihren Angaben zufolge betragen allein die Anwaltsgebühren rund 120.000 Euro - Spesen noch nicht eingerechnet. Weitere große Posten sind die Kosten für die Dolmetscher von rund 75.000 Euro plus Spesen und die Miete für die Ritterakademie, wo der Prozess stattfand, von knapp 65.000 Euro. Dazu kommen noch die Gebühren für Sachverständige von mehreren Tausend Euro und die Reisekosten für die 14 Zeugen. Letztgenannter Punkt dürfte laut Albers nicht unerheblich sein, da die Mehrzahl der Zeugen aus den USA und Kanada angereist war.

Staatsanwaltschaft und Verteidigung prüfen Revision

Ob Gröning vermögend genug ist, um eine derartige Summe zu bezahlen, konnte die Gerichtssprecherin nicht sagen. Sie wies zudem ausdrücklich darauf hin, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung könnten noch bis kommenden Mittwoch Revision einlegen. "Wir werden das Urteil jetzt erst mal prüfen", sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Hannover, Kathrin Söfker. Dasselbe kündigte auch Grönings Anwalt Hans Holtermann an. "Darüber sprechen wir noch mit Herrn Gröning", so Holtermann. Er hatte für seinen Mandanten einen Freispruch gefordert. Am Donnerstag war er für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Ob Gröning seine Strafe überhaupt absitzen muss, ist unklar. Erst wenn das Urteil rechtskräftig ist, wird von der Justiz geprüft, ob der gesundheitlich angeschlagene 94-Jährige in Haft muss.

Kor von Urteil enttäuscht

Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor, die Gröning im Prozess mit einer vielbeachteten Geste vergeben hatte, zeigte sich nach dem Urteil alles andere als zufrieden. "Es ist zu spät für diese Art von Urteil", sagte sie in Terre Haute im US-Bundesstaat Indiana. "Warum haben die Juristen das nicht schon vor 20 Jahren getan?" Kor sagte, ihr wäre es lieber gewesen, wenn man Gröning zu Sozialdienst verurteilt hätte, um gegen Neo-Nazis zu sprechen. "Das Gericht soll mir, einer Überlebenden, beweisen, wie vier Jahre Gefängnis irgendjemandem nutzen." Die 81-Jährige hatte in dem Prozess vor dem Landgericht Lüneburg als Zeugin ausgesagt und öffentlich erklärt, dass sie Gröning vergeben habe. Dafür war sie von anderen Überlebenden scharf kritisiert worden.

Beihilfe zum Mord in mehr als 300.000 Fällen

Der 94-jährige Angeklagte hatte am Mittwochmorgen das Urteil der Lüneburger Richter äußerlich gelassen hingenommen und kaum eine Miene verzogen. Das Gericht sprach Gröning wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 300.000 Fällen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für schuldig. Der Vorsitzende Richter sagte in seiner Urteilsbegründung, dass Grönings Entscheidung für den Dienst in Auschwitz "sicherlich aus der Zeit heraus bedingt, aber nicht unfrei" gewesen sei. Dem damaligen SS-Mann sei es lieber gewesen, dort zu sein als an der Front. "Ich will Sie hier nicht als feige bezeichnen, Herr Gröning, aber Sie haben sich hier für den sicheren Schreibtischjob entschieden." Im Zuge der sogenannten Ungarn-Aktion soll der Angeklagte im Frühjahr 1944 Spuren der Massentötung an ungarischen Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verwischt haben. Mit einem Strafmaß von vier Jahren Haft ging die Kammer sogar noch über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus.

Erste Anklage bereits 1978

Die Anklage hatte auf dreieinhalb Jahre Haft plädiert, von denen bis zu 22 Monate als verbüßt angesehen werden sollten, weil eine Verurteilung schon vor Jahrzehnten möglich gewesen wäre. "Das Gericht ist uns hier nicht gefolgt", sagte Kathrin Söfker von der Staatsanwaltschaft NDR.de. "Niemand muss Jahrzehnte auf sein Verfahren warten." Gröning war bereits Ende der 1970er-Jahre angeklagt worden, das Verfahren wurde im Jahr 1985 eingestellt. Die Anwälte der Nebenklage wollten im Vorfeld eine höhere Strafe als die von der Staatsanwaltschaft geforderten dreieinhalb Jahre, hatten aber kein eigenes Strafmaß angegeben.

Moralisches Schuldeingeständnis zu Prozessbeginn

In seinem Schlusswort am Dienstag sagte der Angeklagte: "Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte, hat Professor Nestler (Vertreter der Nebenklage, d. Red.) hier gesagt. Ich bereue aufrichtig, dass ich diese Erkenntnis nicht viel früher und konsequenter umgesetzt habe." Bereits zu Prozessbeginn hatte Gröning eine moralische Mitschuld eingeräumt. Außerdem gab er vor Gericht zu, in Auschwitz Geld aus dem Gepäck von Juden genommen und an das Wirtschaftsverwaltungshauptamt der Schutzstaffel (SS) in Berlin weitergeleitet zu haben. Später ließ er in einer Mitteilung erklären, dass durch seine Tätigkeit das "System Auschwitz" habe funktionieren können. Eine direkte Beteiligung an den Morden stritt er allerdings ab.

Positive Reaktion vom Zentralrat und aus Israel

Die Nebenkläger und der Zentralrat der Juden in Deutschland sowie die jüdische Gemeinde in Niedersachsen begrüßten den Schuldspruch. "Das war sehr wichtig, weil damit ein NS-Täter zur Rechenschaft gezogen wurde", sagte Zentralratspräsident Josef Schuster in Berlin. Auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem teilte mit, dass "dieser Fall sehr, sehr wichtig für uns" ist. Der Schuldspruch für Gröning sei "wohlverdient". "Wir hoffen, dass dies die deutschen Behörden ermutigen wird, weitere Fälle zu verfolgen", sagte Leiter Efraim Zuroff. Er habe bei seiner Arbeit viele Enttäuschungen erlebt.

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