16.07.2015, 04:02 morgenpost.de
Urteil hat für die Opfer eine hohe Bedeutung

Zentralrat der Juden begrüßt Schuldspruch. Auschwitz Komitee kritisiert milde Strafe.

Lüneburg –.  Die Nebenkläger im Lüneburger Auschwitz-Prozess haben das Urteil gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning begrüßt. "Es erfüllt uns mit Genugtuung, dass nunmehr auch die Täter zeit ihres Lebens nicht mehr vor einer Strafverfolgung sicher sein können", heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung von Rechtsanwalt Thomas Walther und weiteren Nebenklageanwälten. Walther und weitere Anwälte vertreten insgesamt mehr als 60 Nebenkläger – Überlebende von Auschwitz und ihre Nachkommen. "SS-Angehörige wie Gröning, die bei der Ermordung unserer Familien mitgewirkt haben, haben uns lebenslanges und unerträgliches Leid zugefügt", erklärten die Nebenkläger. Das Urteil sei ein später Schritt hin zur Gerechtigkeit. Von den ersten Ermittlungen gegen den "Buchhalter von Auschwitz" im Jahr 1977 habe es 38 Jahre bis zum Schuldspruch gebraucht. Nach Jahrzehnten, in denen das Strafverfahren eingestellt oder die Wiederaufnahme blockiert worden sei, stehe nun fest: "Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte."

Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, misst der Verurteilung Grönings große Bedeutung bei. "Das war sehr wichtig, weil damit ein NS-Täter zur Rechenschaft gezogen wurde", erklärte Schuster am Mittwoch in Berlin. Die Verurteilung habe für die Opfer und ihre Angehörigen eine "hohe Bedeutung". Der Prozess habe auch einen "wichtigen Beitrag" für den Umgang mit der deutschen Vergangenheit geleistet.

Gröning habe in dem Verfahren zumindest "eine moralische Mitschuld eingeräumt", erklärte Schuster. Das Verfahren habe "der deutschen Gesellschaft noch einmal die Verbrechen der Schoah vor Augen geführt und auch gezeigt, dass die Opfer noch Jahrzehnte später unter den Folgen leiden". Er hoffe, dass sich noch weitere NS-Täter vor Gericht verantworten müssten. Auch der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC), Moshe Kantor, begrüßte das Urteil und hob die "historische Bedeutung" des Prozesses hervor.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem hat das Urteil als "wohlverdient" begrüßt. "Wir hoffen, dass dies die deutschen Behörden ermutigen wird, weitere Fälle zu verfolgen", sagte der Leiter Efraim Zuroff. Konkret nannte er beispielsweise ehemalige Mitglieder von Einsatzgruppen. "Dieser Fall war sehr, sehr wichtig für uns", so Zuroff weiter. Er habe bei seiner Arbeit viele Enttäuschungen erlebt. Doch dieses Urteil zeige ihm, dass die Strafverfolgung ehemaliger NS-Verbrecher weitergehen müsse.

Der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, hat das Strafmaß hingegen als zu milde kritisiert. "Angemessen wäre ein lebenslanges Urteil", sagte Heubner am Mittwoch. Trotzdem sei der Prozess sehr wichtig gewesen, "weil er einen Angeklagten gezeigt hat, der mit seinem letzten Wort doch noch realisiert hat, dass das Mitmachen bei diesen Morden eine große Schuld ist, die ihn sein Leben lang begleiten wird". In dem Prozess stecke eine große provokative Frage: "Wie verhalten wir uns in Situationen, in denen Menschen verfolgt und bedroht werden – unsere Hilfe und unseren Schutz suchen?" Die Menschen könnten sich vor Augen führen, "wie leicht man zum Mitmacher und Mitläufer wird, wenn man seine Aufmerksamkeit nicht gegen die eigene Gleichgültigkeit richtet", sagte Heubner.

Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg teilte mit, dass außer dem verurteilten Oskar Gröning zurzeit zwei weitere hochbetagte frühere SS-Männer wegen ihrer mutmaßlichen Verstrickung in die Auschwitz-Verbrechen bei deutschen Gerichten angeklagt sind. Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat einen 93-Jährigen aus dem nordrhein-westfälischen Lage wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Auschwitz angeklagt. Er soll von Januar 1943 bis Juni 1944 als Angehöriger der SS-Wachmannschaft an der Tötung von mindestens 170.000 Menschen beteiligt gewesen sein. Der Beschuldigte bestreitet dies, hat aber eingeräumt, im Lager Auschwitz I eingesetzt gewesen zu sein. Das Landgericht Detmold muss noch über die Eröffnung des Verfahrens entscheiden.

Vor dem Landgericht Neubrandenburg soll sich nach dem Willen der Staatsanwaltschaft Schwerin demnächst ein 94-jähriger Mann verantworten. Er soll als SS-Sanitäter im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau tätig gewesen sein, wie die Ermittlungsbehörde in ihrer Anklage schreibt. Ihm wird deshalb Beihilfe zum Mord in 3681 Fällen vorgeworfen. Das Gericht lässt derzeit die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten überprüfen.

Darüber hinaus seien sieben Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Auschwitz-Aufseher noch nicht abgeschlossen, sagte der Ludwigsburger Staatsanwalt Thomas Will. 23 Verfahren seien wegen des Todes der Beschuldigten oder Verhandlungsunfähigkeit eingestellt worden. Weitere Prozesse seien derzeit nicht abzusehen. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen hatte 2013 Vorermittlungsverfahren gegen insgesamt 30 ehemalige KZ-Aufseher abgeschlossen.

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