15.07.2015 br.de
Ex-SS-Mann erhält vier Jahre Haft

Im Auschwitz-Prozess hat das Landgericht Lüneburg den früheren SS-Mann Oskar Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt. Der 94-Jährige habe sich der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen schuldig gemacht.

"Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch mitschuldig gemacht habe," erklärte der frühere SS-Mann Oskar Gröning während des Prozesses. Das Gericht sieht auch eine strafrechtliche Schuld und verurteilte den 94-jährigen zu vier Jahren Haft. Verteidigung und Staatsanwaltschaft prüfen nun eine Revision.

Damit ging es sogar über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus. Die Verteidigung wollte einen Freispruch erreichen. Ein Anwalt der Nebenklage äußerte Genugtuung über das Urteil. NS-Täter seien nun zeitlebens nicht vor Strafverfolgung sicher. Ob der gesundheitlich angeschlagene Gröning haftfähig ist, muss aber noch die Staatsanwaltschaft prüfen.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem begrüßte das Urteil als "wohlverdient". Man hoffe, dass dies die deutschen Behörden ermutigen wird, weitere Fälle zu verfolgen. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, begrüßte ebenfalls das Urteil, es sei sehr wichtig, weil ein NS-Täter zur Rechenschaft gezogen wurde. Für die Opfer und ihre Angehörigen habe die Verurteilung eine hohe Bedeutung.

"Mir ist bewusst, dass ich mich durch meine Tätigkeit in der Häftlingsgeldverwaltung am Holocaust mitschuldig gemacht habe, mag mein Anteil auch klein gewesen sein."

Oskar Gröning in seiner vom Anwalt verlesenen Erklärung.

Von den Taten wusste Gröning, das hat er nie bestritten. Oskar Gröning war während der sogenannten Ungarn-Aktion 1944 in der Verwaltung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz tätig.

Ungarn-Aktion der Nationalsozialisten

Der "Ungarn-Aktion" der deutschen Nationalsozialisten fiel im Zweiten Weltkrieg weit mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in Ungarn zum Opfer. Von insgesamt 795.000 Juden kamen 502.000 ums Leben. Allein zwischen dem 16. Mai und dem 11. Juli 1944 wurden rund 425.000 Menschen aus Ungarn nach Auschwitz deportiert. Mindestens 300.000 von ihnen wurden in den Gaskammern getötet.

71 Jahre danach

Gröning soll im Frühjahr 1944 Spuren der Massentötung an ungarischen Juden verwischt haben, indem er half, an der Bahnrampe in Auschwitz Gepäck der dorthin verschleppten Menschen wegzuschaffen. Dadurch sollten sie darüber getäuscht werden, was sie in Auschwitz erwartete.

Erst 71 Jahre danach musste sich Oskar Gröning für sein Handeln vor Gericht verantworten. Jahrzehntelang waren viele Richter und Staatsanwälte der Auffassung, dass einem SS-Mann eine persönliche Beteiligung an einer ganz konkreten Tötungshandlung nachgewiesen werden muss, um ihn für seine Tätigkeit im Konzentrationslager verurteilen zu können.

"Wir sind hier mit einem Geschehen konfrontiert, das an die Grenzen menschlichen Verstehens geht."

Staatsanwalt Jens Lehmann in seinem Plädoyer

Oskar Gröning hat in seinen Interviews von Auschwitz und dem Ermorden hunderttausender Menschen berichtet. Er betonte dabei aber immer, dass er nur dabei war. Nur das Gepäck bewacht habe, während andere entschieden, wer direkt ermordet und wer erst ins Arbeitslager geschickt wurde. Für die Taten selber fühlte er sich nicht verantwortlich. Während es Prozesses hatten die Opfer wieder Gesichter bekommen. Ihre Schilderungen über das Leiden in Ausschwitz gingen unter die Haut.

"Wenn wir nachts draußen arbeiteten, sahen wir das Feuer der Schornsteine und die Schreie und Gebete waren so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt."

Auschwitz-Überlebende Irene Weiss als Zeugin vor Gericht

"Nur" mitgemacht?

Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte. Herr Gröning habe mitgemacht, und deswegen müsse er wegen Beihilfe zum Massenmord verurteilt werden, forderte der Nebenkläger-Vertreter Cornelius Nestler in seinem Plädoyer. Andererseits wurde Gröning zu Gute gehalten, dass er nicht wie Tausend andere geschwiegen hat.

"Man rühmte sich, dass man in 24 Stunden 5.000 Tote versorgen könnte."

Gröning zum Verbleib der Ermordeten

Der "Buchhalter von Auschwitz"

Der heute 94-jährige Oskar Gröning gilt als "Buchhalter von Auschwitz". Weil er eine Banklehre absolviert hatte, wurde der Freiwillige der Waffen-SS 1942 in dem Konzentrationslager dafür eingeteilt, zurückgelassenes Geld der Verschleppten zu zählen und an die SS in Berlin weiterzuleiten. Im September 1944 wechselte er in eine Einheit, die an der Front kämpfte. Nach seinen Angaben geschah das erst nach dem dritten von ihm gestellten Versetzungsgesuch.

Nach dem Krieg kam Gröning zunächst in britische Gefangenschaft, dann lebte er mit Frau und Kindern ein bürgerliches Leben in der Lüneburger Heide. Erst Mitte 1985 öffnete er sich. In einer Dokumentation der britischen BBC berichtete er über das, was er in Auschwitz sah und tat. Er selbst beschrieb sich dabei als "Rädchen im Getriebe". Bereits 1977 wurde gegen ihn ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt stellte das Verfahren im März 1985 aber mangels Beweisen ein. Eine Wiederaufnahme wurde später abgelehnt.

Dieser Prozess, der vermutlich das letzte Strafverfahren über NS-Verbrechen war, hatte keinen Angeklagten, der seine sadistischen Neigungen an Menschen in Auschwitz auslebte, der Menschen erschlug oder in Gaskammern trieb. Oskar Gröning ist einer von vielen, einer von Hunderttausenden die "nur" mitgemacht haben.

br.de