07. Dezember 2015, 14:30 Uhr spiegel.de
Ex-Auschwitz-Wachmann muss wegen Mordes in 170.000 Fällen vor Gericht

Wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen muss sich ein ehemaliger SS-Mann vor Gericht verantworten. Der 93-Jährige war 1943 und 1944 in Auschwitz für die Bewachung des Stammlagers zuständig.

Ein früherer SS-Wachmann aus Auschwitz muss sich vor dem Landgericht Detmold wegen Mordes in 170.000 Fällen verantworten.

Die Hauptverhandlung gegen den 93-jährigen Rentner aus dem Kreis Lippe soll voraussichtlich Mitte Februar 2016 beginnen. Die nordrhein-westfälische Zentralstelle für NS-Verbrechen bei der Staatsanwaltschaft Dortmund wirft dem Rentner vor, zwischen 1943 und 1944 am Massenmord in Auschwitz beteiligt gewesen zu sein.

Den Dortmunder Ermittlern zufolge war der Angeklagte 1942 in das Konzentrationslager versetzt worden. Dort soll er unter anderem als Angehöriger des SS-Totenkopfsturmbanns Auschwitz für die Bewachung des Stammlagers zuständig gewesen sein. Auch ankommende Transporte soll er bewacht haben.

Der Angeklagte habe mit seiner Arbeit als Wachmann die vieltausendfachen Tötungen der Lagerinsassen fördern oder zumindest erleichtern wollen, so die Staatsanwaltschaft. Ihm sei bewusst gewesen, dass dieses System mit so vielen Toten nur funktionieren konnte, wenn die Opfer durch Gehilfen wie ihn bewacht wurden.

Angeklagter bestreitet Beteiligung an Tötungen

Zwischen Mai und Juni 1944 seien etwa 92 Transporte mit jüdischen Deportationsopfern aus Ungarn eingetroffen. Nicht arbeitsfähig eingestufte Menschen seien in die Gaskammer getrieben worden. An fast jedem Wochenende habe es Massenerschießungen gegeben.

Zwar hat der Angeklagte eingeräumt, in Auschwitz eingesetzt worden zu sein. Allerdings bestreitet er bislang seine Beteiligung an den Tötungen.

Ursprünglich sollte eine Entscheidung über die Verfahrenseröffnung bereits im Juni fallen. Die Verteidigung hatte allerdings die Verhandlungsfähigkeit ihres Mandaten in Zweifel gezogen. Das Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie und Geriatrie bescheinigte dem 93-Jährigen schließlich, für zwei Stunden pro Prozesstag verhandlungsfähig zu sein.

Späte Gerechtigkeit

Die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Mann sei für die Überlebenden von Auschwitz ein weiterer Akt später Gerechtigkeit, sagte Christoph Heubner, Geschäftsführender Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees. "Darüber hinaus ist dieser Prozess angesichts der Zukunfts- und Gewaltfantasien, die Rechtsextreme und Neonazis heute nicht nur in Deutschland mit dem Wort Auschwitz in Verbindung bringen, von beklemmender Aktualität." Im Internationalen Auschwitz Komitee haben sich Überlebende und ihre Organisationen zusammengeschlossen.

In Deutschland wurden zuletzt mehrfach SS-Leute, die in Auschwitz Dienst taten, noch in hohem Alter angeklagt. Das Landgericht Lüneburg hatte im Juli den 94-jährigen Ex-SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt.

 

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