06./07.02.2016 Lippische Landes-Zeitung
"Mitläufer haben die Tötungsmaschinerie am Laufen gehalten"
Von Astrid Sewing

Internationales Auschwitz Komitee: Für Vizepräsident Christoph Heubner ist es den Tätern im Nachkriegsdeutschland leicht gemacht worden, in ein normales Leben zurückzukehren / Der Vertreter der Organisation der Überlebenden des KZ sowie ihrer Nachfahren sagt, dass die Verantwortlichen auch viele Jahrzehnte später noch vor Gericht gestellt werden müssen.

Kreis Lippe. Es sind die schrecklichen Bilder, der Verlust der Familienangehörigen, die innerliche Leere, die die Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau miteinander verbindet. 1952 gründen einige von ihnen das Internationale Auschwitz Komitee. Dass heute noch SS-Prozesse wie kommende Woche in Detmold geführt werden, ist für sie späte Gerechtigkeit.

Christoph Heubner ist Vizepräsident des Komitees, und er hat kein Verständnis, dass überhaupt die Frage danach gestellt werden könnte, ob es sinnvoll sei, Greise wie den 94-jährigen Reinhold H. aus Lage heute noch vor Gericht zu stellen. "Wäre einer Ihrer Familienangehörigen ermordet worden und der Täter würde Jahrzehnte später ermittelt, dann würden Sie auch nicht auf den Prozess verzichten", sagt Heubner.

Er kennt viele der Überlebenden, spricht immer wieder mit ihnen und erlebt, wie sie für sich einen Weg finden oder auch an dem Erlebten zerbrechen. "Sie wollen sich nicht vom Hass bestimmen lassen, haben aber die Hoffnung auf Gerechtigkeit fast schon aufgegeben." Denn in der Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland sei es den Tätern leicht gemacht worden, in ein normales Leben zurückzukehren. Viele arbeiteten im Staatsdienst. Nur 4,2 Prozent aller SS-Leute hätten vor Gericht gestanden. Und die Verfahren wurden auch nur dann eröffnet, wenn es Augenzeugen gab, die die Täter explizit mit einer Handlung in Verbindung bringen konnten. Die Mitläufer, die Rädchen, wie sie Heubner nennt, die die Tötungsmaschinerie am Laufen gehalten haben, seien aus dem Fokus der Justiz verschwunden. "Noch 1960 wurden Angeklagte von Polizisten im Gerichtssaal militärisch gegrüßt. In der Gesellschaft gab es eine stillschweigende Übereinkunft, nicht an diesem schrecklichen Kapitel der Geschichte zu rühren."

Das Komitee setze sich für die Versöhnung ein, aber auch dafür, dass es eine späte Gerechtigkeit überhaupt gibt, denn dies sei wichtig für die Überlebenden. "Es ist ein Zeichen, das international wahrgenommen wird." Insofern begrüße das Komitee, das Organisationen aus der ganzen Welt unter seinem Dach vereint, die veränderte Rechtsprechung. Denn mittlerweile werde auch gegen die ermittelt, die Beihilfe zum Massenmord geleistet haben, so wie es dem Lagenser vorgeworfen wird. Der Vizepräsident sieht das als "eine Bringschuld der Justiz".

Das Internationale Komitee ist die Schnittstelle, denn in Berlin werden die Daten verwaltet und die Kontakte mit den Überlebenden und deren Familienangehörigen gehalten. "Die Erlebnisse verblassen nicht mit den Jahren, sondern wir erleben, dass die Traumatisierung sich im Alter viel stärker zeigt", sagt Heubner. Und die Bereitschaft, sich die schrecklichen Ereignisse noch einmal in einem Gerichtssaal zu vergegenwärtigen, sei keineswegs groß. Im Vorfeld der SS-Verfahren wendet sich das Auschwitz Komitee an die Betroffenen und fragt nach, wer es aushält, auszusagen. In Deutschland, das auch heute noch für einige der Opfer kein Land ist, in dem sie sich aufhalten können.

"Aber auch wenn sie nicht dabei sein können, ist es für sie ein reinigender Prozess, eine Möglichkeit, eine Art von persönlichem Frieden zu schließen", sagt Heubner.

Für die, die es wollen, stehen andere Gründe im Vordergrund. Ihnen geht es darum, Brücken zu schlagen, die nachfolgende Generation nicht in eine Schuld-Debatte zu verwickeln, sondern sie zu sensibilisieren. "Im Nachkriegsdeutschland ist es das Verdienst der Opfer, dass Türen geöffnet wurden, es überhaupt eine Erinnerungskultur gibt und Versöhnung überhaupt möglich ist." Das schließt die Kinder der Opfer ein, denn auch sie sind betroffen. "Sie müssen sich vorstellen, dass in den Familien Großeltern fehlen, Cousins, Tanten - das sind Lücken, die immer gegenwärtig sind. Die jüngere Generation sucht einen Weg, mit den Auswirkungen des Holocaust umzugehen." Vorträge, Besuche in Schulen, Treffen im Auschwitz-Museum oder im "Haus der Stille", das vor allem mit Spenden aus Lippe aufgebaut worden ist (siehe Bericht unten links) - all das trage dazu bei, Brücken zu bauen, den nachfolgenden Generationen die Geschichte näher zu bringen und daraus zu lernen. Mit Sorge sehe man, dass sich in Deutschland rechtsextremistisches Gedankengut verbreitet. Heubner: "Es ist unerträglich, dass es Menschen gibt, die den Holocaust leugnen." Auch in dieser Hinsicht sei der Prozess in Detmold wichtig.