19.02.2016 hiergeblieben.de
"Die Rädchen in der Maschinerie der Zerstörung"
Von Silke Buhrmester

Auschwitz-Prozess: Max Eisen aus Kanada und Irene Weiss aus den USA sagen am dritten Verhandlungstag als Zeugen aus / Sie wurden im Frühjahr 1944 von Ungarn ins Vernichtungslager deportiert / Vor dem Detmolder Landgericht schildern sie, wie grausam die SS-Wachmänner sie behandelten.

Detmold. Sie waren Teenager, 13 und 15 Jahre alt, als sie mit ihren Familien von Ungarn nach Auschwitz deportiert wurden: Max Eisen und Irene Weiss. Sie haben gestern vor dem Detmolder Landgericht ihre persönliche Tragödie erzählt. Was ihnen geblieben ist? Ein SS-Dokument, zwei Fotos von der Familie in Auschwitz - und die immer präsente Erinnerung an die Hölle auf Erden.

Vor Gericht steht seit der vergangenen Woche der 94-jährige Reinhold Hanning aus Lage. Ihm wird vorgeworfen, als SS-Wachmann in Auschwitz Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen geleistet zu haben.

Auch die Familien der zwei Nebenkläger und Zeugen des gestrigen Tages wurden in dem Vernichtungslager ermordet.

Max Eisen hat das Dokument mitgebracht, das vor rund 20 Jahren im Museumsarchiv Auschwitz gefunden wurde und belegt, dass sein Vater und sein Onkel - Häftlingsnummern A9891 und A9893 - am 4. Juli 1944 für medizinische Experimente ausgewählt wurden: "Es ist ihr Todesurteil und Testament zugleich", sagt er, bevor er es dem Gericht als Beweismittel überlässt.

Er ist aus Toronto nach Detmold gereist, um seine Geschichte zu erzählen: Im Mai 1944 wird die ganze Familie - Eltern, vier Geschwister, Großeltern, Tante und Onkel - in einem Viehwaggon deportiert. Von Auschwitz hatte bis dahin keiner gehört. Als die Familie bei der Ankunft an der Rampe getrennt wird, sei sie immer noch davon ausgegangen, dass sie in einem Arbeitslager angekommen war und sich bald wiedersehen würde. "Ich konnte meiner Mutter kein letztes Wort mehr sagen, es gab noch nicht mal Blickkontakt." Später erfährt er, dass die Mutter, die Geschwister - die Jüngste ist zwei Jahre alt - und die Großeltern im Krematorium vergast wurden.

Max Eisen kommt mit seinem Vater und dem Onkel ins Arbeitslager, wo Grausamkeiten der SS-Wachmänner an der Tagesordnung sind. Ein junger Mann wird vor seinen Augen von einem SS-Mann zu Tode getrampelt, weil er unter der Dusche die Brille verloren und sich danach gebückt hat. Im Gerichtssaal ist es ganz still, als der kleine Mann mit den schlohweißen Haaren erzählt: "Ich hörte seine Rippen krachen. Der Wachmann stampfte auf ihn ein, bis er tot war."

Später wird auch Max Eisen Opfer der willkürlichen Brutalität: Ein SS-Mann habe ihn auf den Kopf geschlagen - weil er nicht arbeitete. Er wird lebensgefährlich verletzt und auf einen Karren verladen, der ihn in den Lazarettblock 21 bringt. Häftlingsärzte operieren ihn. Und als er ein paar Tage später in die Gaskammer Birkenau gebracht werden soll, rettet ihn der Chefchirurg - ein politischer Häftling aus Polen - von der Bahre und macht ihn zum "Operationsgehilfen": "Aber das kleine Lagerlazarett war ein Teil der ganzen Täuschung. Patienten hatten keine Zeit zu genesen. Sie wurden kurze Zeit später auf einen Laster geladen und zu den Gaskammern gebracht." Max Eisens Arbeit ist es nun, die "Ware", die die Lastwagenfahrer auf dem Rückweg in blutigen Lappen mitbringen, zu säubern: "Die Lappen waren voller Zähne mit Goldkronen und Füllungen, die ich dann entfernen musste."

Ob er sich an das Gesicht des Angeklagten oder dessen Namen erinnern kann, fragt Verteidiger Andreas Scharmer. Max Eisen tritt vor zum Richtertisch, betrachtet die Fotografie des jungen Unterscharführers, schüttelt den Kopf. Auch Reinhold Hanning selbst, der heute gesundheitlich stark angeschlagen wirkt und in einem Rollstuhl in den Gerichtssaal kommt, wird Max Eisen oder dessen Familie vermutlich auch niemals in Auschwitz begegnet sein. Und doch ist es für Max Eisen klar: Der Mann auf der Anklagebank hat als SS-Mann in Auschwitz - einer von rund 8.200 - Schuld auf sich geladen. "Jeder SS-Wachmann war ein Rädchen in einer gut geölten Maschine der Zerstörung. Jeder spielte seine Rolle in der Entmenschlichung der Zwangsarbeiter. Jeder trug zum Völkermord an den Juden bei", unterstreicht Max Eisen.

"Für die SS-Männer hatten wir noch nicht einmal den Wert von Sklaven"

Mit ihren Eltern und den fünf Geschwistern im Alter von sieben bis 17 Jahren kommt die damals 13-jährige Irene Weiss aus einer ungarischen Kleinstadt im Mai 1944 nach Auschwitz. Neben Irene Weiss überlebt nur ihre vier Jahre ältere Schwester Serena das Vernichtungslager. Warum Irene nicht mit ihren jüngeren Geschwistern und der Mutter direkt von der Rampe ins Gas geschickt wird? Womöglich, weil sie mit den vielen Kleidungsstücken, die sie bei ihrer Ankunft in Auschwitz übereinander trägt, dem Kopftuch und dem weiten Mantel älter aussieht.

Etwa einen Monat nach der Internierung wird Irene Weiss die Häftlingsnummer in den Arm tätowiert - später lässt sie sich diese entfernen. Doch die Erinnerungen an Auschwitz lassen sich nicht aus ihrem Kopf entfernen. Zu viel Furchtbares hat sie erlebt. Als sie im "Kanada"-Lager nahe des Krematoriums 4 Berge von Wäsche und Haushaltsgegenständen, die den Juden gleich bei ihrer Ankunft abgenommen wurden, sortieren muss, findet sie darunter eines Tages auch das weiße Kleid und den beigen Schal ihrer Mutter. Und während die sortierten Bündel abtransportiert werden, wächst der Berg der Habseligkeiten der Neuankömmlinge auf die Höhe der Baracken an - zu viele Menschen werden während der Zeit der Ungarn-Aktion, die die Vernichtung aller Juden des Landes zum Ziel hatte, in Auschwitz ermordet.

"Für die SS-Männer hatten wir noch nicht einmal den Wert von Sklaven. In jedem Moment und ohne Grund konnten sie über Leben und Tod entscheiden." Irene Weiss hört die verzweifelten Schreie der Menschen auf dem Weg zum Krematorium, wo sie Leichenberge sehen, die in offenen Gruben verbrannt werden: "Ich habe mir die Ohren zugehalten, dann war es still." Ihr Vater muss in einem Sonderkommando Leichen aus den Gaskammern ziehen. Das hält er nicht lange durch, wird erschossen. Irene Weiss erfährt von seinem Tod noch im KZ, konnte aber lange nicht über sein Schicksal sprechen. Im Gerichtssaal tut sie es. Betretenes Schweigen, der Angeklagte schaut nach unten, zittert am ganzen Körper.

1947 wandert Irene Weiss in die USA aus, heiratet, bekommt drei Kinder und wird Lehrerin. Viel später, im Jahr 1982, entdeckt ihre Tochter Lesley, die sie auch zum Prozess nach Detmold begleitet, ein Album mit Auschwitz-Bildern. Darin auch zwei Aufnahmen, die die Weiss-Familie bei ihrer Ankunft im KZ zeigen. Das erste zeigt sie selbst, wie sie ihrer kleineren Schwester Edith nachschaut, die in dem Chaos auf der Rampe verloren ging: "Das quält mich noch heute." Das zweite zeigt ihre Brüder Reuven (9), Gershon (7) und die Mutter Leah (44) vor den Krematorien 4 und 5: "Kurz danach wurden sie in den Gaskammern umgebracht."

Irene Weiss möchte dem Gericht die Bilder zeigen. Doch dazu kommt es nicht mehr. 12.10 Uhr - Verteidiger Johannes Salmen weist darauf hin, dass die zwei Stunden, in denen sein Mandant laut ärztlichem Gutachten verhandlungsfähig ist, um sind. Heute kommt Irene Weiss darum erneut zu Wort.

Alles zum Thema und aktuelle Videos und Fotos unter www.lz.de/ssprozess.

Bildunterschrift: Sagen an den Prozesstagen drei und vier aus: Isaiah Tadmon, der seinen Freund, den Zeugen Mordechai Eldar begleitet, Zeugin Irene Weiss mit ihrer Tochter Lesley, Zeuge Max Eisen und Zeuge William Glied (vorne, von links).

Bildunterschrift: Vor der Verhandlung: Nebenkläger Max Eisen im Gespräch mit seinem Anwalt Prof. Dr. Cornelius Nestler.

Bildunterschrift: Wirkt gesundheitlich angeschlagen: Reinhold Hanning sitzt mit gesenktem Kopf auf der Anklagebank.

hiergeblieben.de