19.02.2016 hiergeblieben.de
Ein Arzt rettete ihn vor der Gaskammer / Auschwitz-Prozess: das Schicksal des Max Eisen
Von Bernd Bexte

Detmold (WB). "Ich glaubte erst, ich hätte schlecht geträumt. Doch der Albtraum war die Wirklichkeit." So erinnert sich Tibor "Max" Eisen an seine Ankunft in Auschwitz-Birkenau im Mai 1944. Aber das ist erst der Anfang. Damals ist er 15, heute fast 87. Dennoch hat Max Eisen die Reise aus dem fernen Toronto auf sich genommen, um über das Grauen im Lager zu berichten.

Allerdings kann er das am dritten Verhandlungstag im Detmolder Auschwitz-Prozess erst mit Verspätung. Denn der wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen angeklagte Reinhold Hanning (94) hat dem Gericht gestern Morgen mitteilen lassen, dass er einen Rollstuhl benötige. Das stellt das Gericht vor offensichtliche Probleme. Obwohl ein Arzt und ein Krankenwagen immer vor Ort sind, dauert es mehr als eine Stunde, bis ein Mitarbeiter des Landgerichts einen Rollstuhl des Detmolder DRK zum Gericht bringt. Hanning, der wie an den anderen Verhandlungstagen von seinem Sohn vorgefahren wird, wartet derweil etwa eine halbe Stunde regungslos im schwarzen Audi A4. Dann helfen ihm seine Anwälte in den Rollstuhl. Ein Justizbeamter schiebt ihn in das IHK-Gebäude, in dessen großem Saal das Gericht tagt.

Die Auschwitz-Überlebenden sind auch mit der Hoffnung gekommen, dass Hanning Reue zeigt. Verteidiger Johannes Salmen macht mit einer Erklärung zu Beginn jedoch deutlich, dass damit wohl nicht mehr zu rechnen ist. Er habe am vergangenen Freitag zwar eine Erklärung angekündigt, diese betreffe aber ausschließlich die Verteidigung. "Herr Hanning wird sich nicht zur Sache äußern, schon gar nicht zum persönlichen Empfinden", antwortet Salmen der Vorsitzenden Richterin Anke Grudda, die zuvor den Angeklagten gefragt hat, wie es ihm gehe. In den Reihen der Nebenkläger und deren Verteidiger sorgt Salmens Äußerung für Befremden.

Max Eisen hingegen ergreift das Wort. "Ich war von Mai 1944 bis Januar 1945 in Auschwitz", sagt er mit fester Stimme. Sein Vortrag auf Englisch wird simultan übersetzt. Eisen lebt seit 1949 in Kanada. Sachlich, fast nüchtern berichtet er von einem schier unfassbaren Martyrium. Eisen arbeitet mit anderen Häftlingen zehn Stunden täglich in der Landwirtschaft, schneidet mit einer Sichel Senfpflanzen. "Ich überlebte mit 300 Kalorien pro Tag, bestehend aus einer Tasse Tee am Morgen, einem Schöpflöffel voll wässriger Suppe zu Mittag und einer Tasse Ersatzkaffee, einer dünnen Scheibe Brot und einem winzigen Stück Margarine zu Abend." Er sieht, wie anderen ungarischen Juden kurz nach der Ankunft Goldzähne mit einer Zange aus dem Mund gerissen werden, wie ein SS-Mann einen jungen Häftling unter der Dusche zu Tode tritt. "Er hatte sich nur gebückt, um seine Brille aufzuheben. Ich konnte seine Rippen krachen hören."

Eines Tages schlägt ein SS-Wachmann Eisen während der Arbeit das Gewehr auf den Kopf. "Wir hatten in einem Graben gesessen und einen Moment nicht gearbeitet." Der 15-Jährige wird so schwer verletzt, dass er operiert werden muss. "Ein paar Tage später legte man mich und andere verletzte Gefangene auf eine Bahre - mit Ziel Gaskammer." Dr. Tadeusz Orzeszko, ein politischer Häftling aus Polen und Chirurg im Krankenbau des Stammlagers, rettet ihn und bringt ihn zurück ins Lazarett. "Er gab mir einen Arztkittel und sagte, ich sei nun ein Operationsgehilfe." Eisen wird Zeuge grausamer Verbrechen, denn das kleine Lagerlazarett ist Teil einer Täuschung. "Patienten hatten keine Zeit zu genesen; viele von ihnen wurden kurz nach der Behandlung auf Laster geladen und zu den Gaskammern gebracht." Die Lastwagenfahrer kommen einige Stunden später in den Operationssaal zurück, wo sie blutige Lappen aus ihren Hosentaschen ziehen. "Die waren voller Zähne mit Goldkronen und Füllungen, die ich mit den mir zur Verfügung stehenden Instrumenten entfernen musste. Ich war entsetzt über diese Fledderei." Auch der berüchtigte SS-Arzt Dr. Josef Mengele kommt regelmäßig ins Lazarett. Max Eisens Vater und Onkel werden bei einer Selektion für medizinische Experimente ausgewählt - ihr Todesurteil.

Abschließend wendet sich Max Eisen an Reinhold Hanning. Aus Auschwitz kenne er ihn nicht. Doch sei jeder SS-Mann dort ein Rädchen einer gut geölten Maschine der Zerstörung gewesen. "Ich möchte dem Gericht und Reinhold Hanning sagen, dass ich bis zum heutigen Tag mit diesen entsetzlichen Erinnerungen leben muss, mit dem unaussprechlichen Trauma von Auschwitz." Hanning nimmt sämtliche Schilderungen äußerlich regungslos auf. Er hebt seinen Kopf kein einziges Mal, nestelt nur gelegentlich an seinem Sakko, schaut kurz auf die Armbanduhr. Er wirkt unruhiger als an den Tagen zuvor.

Auch Irene Weiss berichtet von ihrem Leid in Auschwitz. Die 85-Jährige ist mit ihrer Tochter Lesley aus den USA angereist. Sie hatte sich, wie am Dienstag berichtet, viele Jahre später auf Fotos in Auschwitz wiedererkannt. Die zierliche Frau erzählt, wie ein SS-Mann Frauen unter der Dusche auspeitscht. Warum? "Weil er es konnte. Für die SS waren wir Untermenschen." Der Prozess wird heute (10 Uhr) fortgesetzt.

Bildunterschrift: Max Eisen (86) ist aus Toronto (Kanada) nach Detmold gekommen. Als 15-Jähriger wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert, die Erinnerungen prägen bis heute sein Leben.

Bildunterschrift: Reinhold Hanning (94) lässt sich im Rollstuhl in den Gerichtssaal fahren. Die Verhandlung beginnt mit Verspätung.

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