20.02.2016 hiergeblieben.de
Ohne Anteilnahme / Der ehemalige SS-Unterscharführer Reinhold Hanning (94) zeigt keinerlei Interesse am Prozess-Geschehen
Von Bernd Bexte

Detmold (WB). Auf der Leinwand im Gerichtssaal sind kahl geschorene Frauen in Häftlingskleidung zu sehen, ein entkräfteter Greis hockt an der Rampe in Birkenau, SS-Männer schlendern gelassen zwischen leeren Viehwaggons. Alle Anwesenden blicken gebannt auf die Schwarz-Weiß-Fotos aus Auschwitz. Nur einer nicht: Reinhold Hanning.

Ein Enkel schiebt ihn im Rollstuhl in den Gerichtssaal. Den Blick versteinert auf die Tischplatte geheftet, zeigt der 94-jährige ehemalige SS-Unterscharführer in der gut zweistündigen Verhandlung keine Regung. Der Mann aus Lage wirkt jedoch ruhiger und gefasster als am Donnerstag. Er ist wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen im Vernichtungslager Auschwitz angeklagt. Anders als an den Tagen zuvor richtet die Vorsitzende Richterin Anke Grudda nicht mehr das Wort an ihn, nachdem die Verteidigung zuletzt in harschem Ton erklärt hatte, dass sich Hanning nicht äußern werde. Nur ab und zu hebt er mit schlanken, zittrigen Händen einen Pappbecher an den Mund, um Wasser zu trinken.

Derweil schildert William "Bill" Glied (85) aus Toronto seinen Leidensweg in Auschwitz. Der im damaligen Jugoslawien geborene Jude wird am 28. Mai 1944 nach zweitägiger Fahrt aus einem mit Menschen vollgestopften Viehwaggon auf die Rampe in Birkenau getrieben. "Es war ein schöner sonniger Tag", erinnert er sich genau. Doch der Boden auf dem er steht, ist "das schlimmste Stück Erde". William Glied ist 13. Sein Vater ist an seiner Seite, sein Beschützer. Deshalb bleibt ihm vor allem eine Begebenheit in Erinnerung. "Im größeren Zusammenhang von Auschwitz ist sie völlig unbedeutend, doch sie hat mein Leben verändert." Der kleine William steht mit seinem Beschützer auf der Lagerstraße, als ein SS-Offizier auf sie zukommt, seinen Vater ansieht und ihm mit voller Wucht den Handrücken ins Gesicht schlägt. "Wenn ich mich dir nähere, dann nimmst du gefälligst die Mütze ab, du Schweinehund", habe er gesagt. "Und mein Vater stand da, nun mit der Mütze in der Hand, und entschuldigte sich. Mein Vater, zu dem ich aufschaute wie zu einem Gott, den alle, die ihn kannten, achteten und bewunderten, stand da, gedemütigt."

Glied bleibt nur 20 Tage in Auschwitz-Birkenau, "aber diese 20 Tage erschienen mir wie 20 Jahre". Vater und Sohn werden nach Dachau verlegt. Wenige Tage vor der Befreiung stirbt sein Vater dort an Typhus. "1947 bin ich dann als 17-jähriger Waise nach Kanada gegangen." Denn auch seine Mutter wird in Auschwitz ermordet, ebenso seine Schwester. Warum er als Zeuge und Nebenkläger nach Detmold gekommen ist? "Nicht aus Hass - ich kenne Herrn Hanning gar nicht. Meine Hoffnung ist, dass die Verurteilung dieses SS-Offiziers helfen wird, die verbleibenden Holocaust-Skeptiker zum Schweigen zu bringen. Und dass die Welt erfährt, dass die Menschheit mitfühlt", endet er seinen bewegenden Vortrag.

Mordechai Eldar ist aus Israel nach Detmold gereist. Der gebürtige Ungar leidet sieben Monate in Birkenau, verliert dort Vater, Mutter und zwei kleine Brüder. Er ist 14, als er im Vernichtungslager ankommt. Nach der ersten Selektion ist nur noch sein 18-jähriger Bruder Jehuda an seiner Seite. "Ohne ihn wäre ich zusammengebrochen." Wo denn ihre Eltern seien, fragen sie ältere Gefangene. "Die sind durch den Schornstein in den Himmel gestiegen", sagen sie. Die Brüder verstehen zunächst nicht, begreifen dann, können es aber nicht glauben. Gemeinsam weinen sie sich in den Schlaf. Als nach einer weiteren Selektion sein Bruder von ihm getrennt wird - er trifft ihn erst 1946 wieder -, will Eldar sich in den stromgeladenen Lagerzaun stürzen. "Ein Freund, Mosche, brachte mich davon aber ab. Er war jetzt wie ein Bruder für mich." Was er dann erlebt, ist aber nicht nur für einen 14-Jährigen zu viel. Eldar berichtet von der Gewalttätigkeit der zu Aufsehern erkorenen Blockältesten, der Kapos. Sie drangsalieren, schlagen, quälen Häftlinge - und töten sie sogar. Er spricht von sexuellem Missbrauch an Kindern und erzwungenen Schaukämpfen zwischen Gefangenen.

Am 9. Oktober 1944, seinem 15. Geburtstag, steht er schon nackt in der Auskleide vor der Gaskammer ("Ich betete nicht, da ich nicht glaubte, dass Gott helfen könnte"), als er mit 50 anderen Todgeweihten herausgewinkt wird: zum Kartoffelentladen. Er überlebt. In einem Zug voller Leichen ("Wir haben uns die Kleider der Toten angezogen") wird Eldar zwei Monate später gen Westen deportiert. Bei einem Bombenangriff der Amerikaner auf das KZ Mauthausen sterben viele Menschen. Wieder überlebt Eldar. Unter unvorstellbaren Bedingungen: "Wir haben Körperteile gesammelt und gegessen ... "

Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.

Bildunterschrift: Reinhold Hanning (94) verfolgt die Gerichtsverhandlung teilnahmslos. Am vierten Verhandlungstag können ihn weder Fotos aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau noch die Aussagen Überlebender dazu bewegen, auch nur einmal aufzuschauen.

Bildunterschrift: William Glied (85) hofft, dass der Detmolder Prozess Holocaust-Skeptiker zum Schweigen bringt. "Ich habe keinen Hass."

Bildunterschrift: Mordechai Eldar (86) ist dankbar für den Prozess. "Ich habe eine hohe Wertschätzung für die deutsche Justiz", sagt der Israeli.

hiergeblieben.de