20.02.2016 hiergeblieben.de
Ein letztes Foto vor dem Gang in die Gaskammer
Von Silke Buhrmester

Auschwitz-Prozess: Drei Nebenkläger sagen am vierten Tag vor dem Landgericht Detmold aus / Irene Weiss zeigt ein Bild ihrer Familie bei der Ankunft im KZ / Der damals 14-jährige Mordechai Eldar schildert, wie Aufseher die Kinder in seiner Baracke missbrauchten und zu Tode prügelten.

Detmold (sb). In Auschwitz waren Menschen nichts wert. Auch die Kinder nicht. Mit ihrer Ankunft waren die meisten zum Tode verdammt, wurden sofort von der Rampe in die Gaskammern geführt.

"Eineinhalb Jahre hatte ich keine Kinder gesehen. Immer, wenn ich nach dem Krieg welche sah, starrte ich sie an", erzählt die Holocaust-Überlebende Irene Weiss vor dem Detmolder Landgericht. Dort hat sie gestern erneut gegen den ehemaligen SS-Wachmann Reinhold Hanning ausgesagt, dem Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen im KZ Auschwitz zur Last gelegt wird.

Irene Weiss ist im Mai 1944 selbst erst 13 Jahre, als sie mit ihrer Familie von Ungarn nach Auschwitz deportiert wird. Zum Auftakt des vierten Prozesstages werden Bilder eines unbekannten NS-Fotografen aus Auschwitz an die Wand des Saals projiziert - darunter ein Bild, das Irenes Angehörige zeigt. Sie tragen gelbe Davidsterne an der Kleidung, warten, scheinen arglos zu sein. Denn sie wissen nicht, dass sie gleich in die Gaskammer geführt werden. Das Bild macht so betroffen, weil es nicht nur ein Zeugnis der furchtbaren Zeitgeschichte ist, sondern die Menschen darauf einen Namen haben: Die beiden jüngeren Brüder von Irene Weiss, Reuven (9) und Gershon (7), stehen links im Vordergrund, die Mutter Leah (44) sitzt dahinter auf dem Boden. Wenig später sind sie alle tot. Irene Weiss hat bis auf ihre drei Jahre ältere Schwester Serena alle engen Angehörigen in Auschwitz verloren.

Ein Kind war auch Mordechai Eldar, als er Ende Mai 1944 in Auschwitz interniert wurde. Seine Familie - die Eltern und die jüngeren Brüder - werden ebenfalls direkt bei der Ankunft ins Gas geschickt. Einziger Halt im KZ Auschwitz ist für den 14-Jährigen sein vier Jahre älterer Bruder. Mordechai Eldar berichtet von furchtbarsten Erlebnissen in der Kinderbaracke. Die "Kapos" - so wurden die Funktionshäftlinge, die die anderen Gefangenen im Namen der Lagerleitung beaufsichtigten, genannt - hätten sie willkürlich gequält, sexuell missbraucht oder für sexuelle Handlungen ausgeliehen und zu Schaukämpfen gezwungen: "Und wer nachts weinte, wurde totgeprügelt."

Im Herbst 1944 - sein Bruder ist schon von ihm getrennt worden, er trifft ihn aber nach dem Krieg wieder - wird Mordechai Eldar innerhalb von nur drei Wochen bei der Selektion dreimal zur Vergasung ausgewählt. Zweimal gelingt ihm mit seinem Freund Mosche die Flucht, beim dritten Mal steht er schon nackt vor der Gaskammer: "Dann kam ein SS-Mann und hat mir und etwa 50 anderen befohlen, mich wieder anzuziehen." Er muss beim Verladen von Kartoffeln für die Front helfen.

Doch auch als er von Auschwitz im Dezember 1944 weiter ins KZ Sachsenhausen deportiert wird, nimmt das Grauen kein Ende: "Wir saßen in offenen Waggons, es war so kalt, dass viele starben. Wir haben ihre Kleidung angezogen und uns auf die Leichen gesetzt, weil der Boden gefroren war."

Nach ein paar Wochen kommt Mordechai Eldar schließlich ins KZ Mauthausen. Die Not, der Hunger muss unvorstellbare Ausmaße angenommen haben: "Das Lager wurde bombardiert, und wir aßen die Leichen." Während der Angeklagte der zweistündigen Verhandlung wieder mit gesenktem Kopf folgt, fangen Besucher im Zuschauerraum an zu weinen - zu grausam sind die Schilderungen.

"Ich habe nur 20 Tage in Auschwitz verbracht, aber diese 20 Tage erschienen mir wie 20 Jahre", sagt William Glied, der dritte Nebenkläger und Zeuge dieses Prozesstages. Im Frühjahr 1944 wurde der damals 13-Jährige mit seiner Familie ins Vernichtungslager deportiert. In der Heimatstadt Subotica (früher Jugoslawien, heute Serbien) habe die Familie bis dahin ein gutes Leben geführt - der Vater angesehen als Betreiber der örtlichen Getreidemühle, er selbst habe in der öffentlichen Schule, in die er ging, nie Antisemitismus erfahren. Doch dann grenzten die anti-jüdischen Gesetze die Familie immer mehr aus.

Am 28. Mai 1944 kommt der Transport mit den nach der mehrtägigen, menschenunwürdigen Reise völlig ausgelaugten Menschen in Auschwitz an: "Alles ging so schnell. Ich weiß nur, dass ich meine Mama und meine Schwester nie wieder gesehen habe. Ich habe sie nicht verabschiedet, geküsst oder umarmt. Sie sind für immer aus meinem Leben verschwunden." Auch die 18 weiteren nahen Verwandten des Transports sieht William Glied nie wieder.

Er wird im Juni in einem weiteren Viehwaggon zusammen mit seinem Vater nach Dachau gebracht. Beide erkranken an Typhus, der Vater stirbt daran am 21. April 1945 - acht Tage vor der Befreiung.

William Glied wandert 1947 als 17-jähriges Waisenkind nach Kanada aus - heiratet dort, bekommt drei Töchter und acht Enkel. Doch die Erinnerung an Auschwitz, die Erniedrigungen und Entmenschlichungen und die Geräusche der verzweifelten Menge auf der Rampe verfolgen ihn bis heute: "Jedes Mal, wenn ich eine lärmende Menschenmenge höre, sogar bei einem Fußballspiel, hallt mir dieses Geräusch heute noch in den Ohren wider und ich bekomme Platzangst."

Nicht aus Hass trete er als Nebenkläger auf, betont Glied: "Ich kenne Herrn Hanning gar nicht persönlich. Aber ich kann nicht vergessen." In seinen täglichen Träumen erscheine die Rampe als schlimmstes Stück Erde. "Ich sehe die Reihen, wie sie verschwinden, immer und immer wieder."

Er hoffe, dass die Verurteilung des SS-Offiziers Hanning helfen werde, die verbleibenden Holocaust-Skeptiker zum Schweigen zu bringen.

Bildunterschrift: Das letzte Foto ihrer Familie: Links stehen die beiden Brüder von Irene Weiss, Reuven (9) und Gershon (7), dahinter sitzt die Mutter Leah (44). Das Foto wurde von einem NS-Fotografen im Mai 1944 in dem Birkenwäldchen vor den Gaskammern aufgenommen, wo die ungarischen Juden - vorrangig Mütter und Kinder - auf ihre Ermordung warteten.

Bildunterschrift: Sagte gestern aus: Zeuge Mordechai Eldar aus Israel.

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