20.02.2016 hiergeblieben.de
Erschütternde Zeugnisse der SS-Willkür
Von Dirk-Ulrich Brüggemann

Auschwitz-Prozess: Irene Weiss zeigt Bilder eines unbekannten NS-Fotografen aus dem Konzentrationslager / William Glied und Mordechai Eldar schildern die Gewalttätigkeiten der Wachmannschaften.

Detmold. Auch am vierten Verhandlungstag brauchte der 94-jährige Reinhold Hanning wieder den Rollstuhl, um den Gerichtssaal in der Industrie- und Handelskammer zu Detmold zu betreten. Die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Detmold setzte die Zeugenvernehmungen in einem der letzten großen NS-Prozesse fort.

Dem ehemaligen SS-Wachmann aus Lage wird Beihilfe zum Mord an mindestens 170.000 Menschen im Konzentrationslager Auschwitz vorgeworfen. Hanning saß während der Aussagen von Irene Weiss aus den USA, William "Bill" Glied aus Kanada und Mordechai Eldar aus Israel mit nach unten gesenktem Kopf zwischen seinen beiden Verteidigern, Andreas Scharmer und Johannes Salmen.

Irene Weiss, die heute in Virginia / USA lebt, zeigte dem Gericht ein Kindheitsbild von sich und ihrer Schwester Serena mit drei Freunden. Dann präsentierte sie ein Foto eines unbekannten NS-Fotografen, der sie an der Rampe bei der Ankunft in Auschwitz fotografiert hatte, als sie verzweifelt nach ihrer Mutter suchte. "Die Menschen hatten keine Ahnung, was sie erwarten würde", sagte sie im Zeugenstand und erklärte, dass viele der Wartenden von der Rampe direkt in die Gaskammern gebracht wurden. "Meine Familie zu sehen, wie sie auf dem Weg in die Gaskammer ist, ist für mich zerstörend", sagte sie zu den im Saal an die Wand projizierten Bildern.

Irene Weiss und auch William Glied machten ihre Aussagen in englischer Sprache, die simultan ins Deutsche übersetzt wurden. Hannings Verteidiger Andreas Scharmer bemängelte, dass es durch die Simultanübersetzung für seinen Mandanten besonders schwierig sei, den Aussagen der Zeugen zu folgen.

William "Bill" Glied hatte sich aus Toronto auf den Weg nach Detmold gemacht, um vor dem Landegericht auszusagen. Der heute 85-Jährige wurde in Subotica im ehemaligen Jugoslawien, dem heutigen Serbien, in eine wohlhabende jüdische Familie geboren. 1941 wurde seine Heimat Ungarn zugeschlagen. 1944 verschlechterte sich das Leben für die ungarischen Juden drastisch. Als 13-Jähriger wurde Bill Glied nach Auschwitz deportiert. Noch heute verfolgen ihn seine Erfahrungen und Erinnerungen an Auschwitz in Alpträumen.

Die Ankunft an der Rampe des Konzentrationslagers blieb ihm als Chaos voller Brutalität im Gedächtnis: Er berichtete von schreienden Kindern, weinenden Frauen, schlagenden SS-Soldaten.

Am schlimmsten sei die Willkür der Selektion gewesen, wenn die Arbeitsfähigen von jenen getrennt wurden, die in die Gaskammern getrieben werden sollten: "Diese herzlosen Mörder entschieden mit einem Fingerschnippen, wer leben durfte und wer sterben musste." Eingeprägt habe sich auch das Gefühl der Erniedrigung, als sein Vater von einem SS-Mann geschlagen und beschimpft wurde, weil er die Mütze nicht abgenommen hatte. Zu sehen, wie sich sein Vater demütig entschuldigte, sei eine schlimme Erfahrung gewesen, die er immer mit sich tragen werde.

Als weiterer Zeuge sagte der Israeli Mordechai Eldar aus. Eindrücklich schilderte der heute 86 Jahre alte ehemalige Oberst der israelischen Armee die Gewalttätigkeit der zu Aufsehern gemachten Blockältesten unter den Gefangenen. Sie hätten die Häftlinge bei jeder Gelegenheit drangsaliert, geschlagen, gequält oder getötet. Er sprach von sexuellem Missbrauch an Kindern sowie Schaukämpfen zwischen Gefangenen.

Mit Mordechai Eldar kamen mehr als 100 Verwandte mit ins Konzentrationslager Auschwitz. Nur 36 von ihnen überlebten den Holocaust. Eldar, der mit gerade 14 Jahren ins Lager kam, fragte seinen 18-jährigen Bruder: "Sieht Gott, was hier geschieht?" Der Bruder antwortete nicht. Als Eldar andere Mitgefangene nach dem Verbleib seiner Eltern fragte, bekam er als Antwort. "Eure Eltern sind durch den Schornstein in den Himmel gestiegen."

Später dachte Mordechai Eldar sogar darüber nach, sich am elektrischen Lagerzaun umzubringen ...

Der nächste Prozesstag

Am Freitag, 26. Februar wird die Verhandlung um 10 Uhr fortgesetzt.

Als Zeugen werden Judith Kalman und der Ermittler des Landeskriminalamtes Düsseldorf, Stefan Willms, vor dem Schwurgericht ihre Aussagen machen.

Bildunterschrift: Schilderten ihre Erlebnisse in Auschwitz: Irene Weiss (von links), William "Bill" Glied und Mordechai Eldar.

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