27.02.2016 hiergeblieben.de
LEine Stimme für sechs Millionen ermordete Juden
Von Silke Buhrmester

Detmold. Benjamin - Ben - Lesser spricht bei vielen Gelegenheiten über seine furchtbaren Erlebnisse während des Holocausts. 48 Jahre nach seiner Befreiung tat er es erstmals öffentlich. Sein Enkel, 1993 in der fünften Klasse, hatte ihn darum gebeten. Er war zehn - "genauso alt wie ich damals", sagt Ben Lesser. Damals, als die Deutschen im September 1939 in Polen einmarschierten und seine Welt zusammenbrach.

Was folgte waren Vertreibung, Ghetto, Ermordung der Eltern und Geschwister, Auschwitz, Buchenwald, Dachau. Sein Schicksal schildert der 87-Jährige vor dem Landgericht Detmold am fünften Verhandlungstag im Prozess gegen den ehemaligen SS-Wachmann Reinhold Hanning, dem Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen in Auschwitz zur Last gelegt wird.

Die jüdische Familie des Ben Lesser, seine zwei Brüder, zwei Schwestern und die Eltern, habe glücklich in Krakau gelebt - bis zum Einmarsch der Nazis. In der Folgezeit gab es Ausgrenzungen, Schulausschluss und andere Schikanen, schließlich musste die Familie ins Ghetto ziehen: "Nachts kamen die Nazis mit Lastwagen und holten die Kinder ab. Wenn die verzweifelten Eltern hinterher liefen, wurden sie vor den Augen ihrer Kinder erschossen."

Seine Familie entschließt sich zur Flucht im Hohlraum eines Lastwagens. Seine Eltern werden entdeckt und erschossen, er kommt nach Ungarn. Als Wehrmacht und SS im März 1944 in Ungarn einmarschieren, wird Ben Lessers restliche Familie nach Auschwitz deportiert.

"18 Jahre alt, gesund, und arbeitsfähig", habe er auf Deutsch zum SS-Mann auf der Rampe in Auschwitz gesagt, sich dabei groß gemacht und salutiert. Ben Lesser, in Wahrheit 15 Jahre alt, wird nach links geschickt zu seinem Onkel und dem Cousin. Er darf leben. Doch seine Hoffnung, in einem Arbeitslager angekommen zu sein und für Arbeit auch besseres Essen zu bekommen, erfüllt sich nicht.

Als der Teenager wenig später in der Baracke fragt, woher der helle Lichtschein und die Stimmen in der Ferne kommen, klärt ihn der Blockälteste auf: Die Nazis hätten alles für die Vernichtung der ungarischen Juden vorbereitet, die Gaskammern vergrößert, neue Krematorien gebaut. Doch es reichte nicht aus, um die ankommenden Juden - rund 440.000 während der Ungarn-Aktion - schnell genug zu töten und zu verbrennen: "Halbtot wurden die Menschen in offenen Leichengruben verbrannt. Und was ich hörte, waren die Schreie von Kindern, die einfach lebend dort hineingeworfen wurden."

Zwei Wochen lebt Ben Lesser in der Hölle, wie er das Vernichtungslager nennt. Er berichtet von der Grausamkeit der SS-Männer: Beim Mützenspiel morgens und abends sei es darum gegangen, auf Kommando die Mütze abzunehmen und mit der Hand synchron auf die Hosennaht zu schlagen: "Wer zu langsam war, wurde totgeschlagen oder erschossen."

Der Jugendliche kommt in ein Arbeitslager. Als die Front näher kommt, muss er einen dreiwöchigen Todesmarsch nach Buchenwald antreten. Schließlich wird er erneut in einem Viehwaggon ins KZ Dachau deportiert. Als er dort kurz darauf befreit wird, erfährt er: "Ich, ein 16-Jähriger, war der einzige von 3.000 Menschen in dem Zug, der überlebt hat." Warum? Das habe er sich oft gefragt: "Um sechs Millionen ermordeten Juden eine Stimme zu geben!"

Das sieht auch die 72-jährige Nebenklägerin Angela Orosz Richt-Bein als ihre Berufung an. Sie wurde kurz vor Weihnachten 1944 in Auschwitz geboren und hat als eines von nur zwei Babys das Vernichtungslager überlebt. "Herr Hanning, Sie wissen, was in Auschwitz passiert ist, Sie haben die Ermordungen möglich gemacht, erzählen Sie uns davon", wendet sich die zierliche Person, die ein elegantes Kostüm trägt, direkt an den Angeklagten. Doch Reinhold Hanning blickt starr nach unten und schweigt. So erzählt die Jüdin mit ungarischen Wurzeln, die heute in Montreal lebt: Wie ihre Mutter, im zweiten Monat schwanger, gemeinsam mit ihrem Mann nach Auschwitz deportiert wurde, wie ihr Vater vermutlich kurze Zeit später dort starb. Sie erzählt von der Schwerstarbeit der Mutter und den Sterilisierungs-Experimenten, die der berüchtigte Lagerarzt Dr. Josef Mengele an der Schwangeren vollzog. Trotz allem schaffte es die Mutter, ein Kind zu gebären, auf der obersten Pritsche der Baracke: Angela, 1.000 Gramm leicht, zu schwach zum Schreien: "Das hat mir vermutlich das Leben gerettet." Denn das Neugeborene blieb unentdeckt, Mutter und Tochter wurden am 27. Januar 1945 befreit.

Ihre Mutter, erzählt Angela Orosz Richt-Bein, habe später in Kanada ein glückliches Leben geführt, doch Auschwitz habe sie nie losgelassen: "Sie konnte nicht duschen, weil sie nicht glauben konnte, dass Wasser und kein Gas aus den Duschköpfen kam." Und auf dem Totenbett sei ihr noch Mengele begegnet.

Angela Orosz Richt-Bein, sagt, sie könne die Taten nicht vergeben - so wie nichts die Unmenschlichkeit und die Alpträume von Auschwitz auslöschen könne. Im Januar 2015 sei sie erstmals wieder in dem ehemaligen KZ gewesen: "Ich ging wie in Trance. Ich hatte Angst, mit jedem Schritt auf ein Grab zu treten."

Bildunterschrift: Sagte gestern im SS-Prozess aus: Nebenkläger Benjamin Lesser, der von seiner Tochter Gail Lesser-Gruber in den Gerichtssaal begleitet wurde.

Bildunterschrift: Erneut im Rollstuhl: Der Angeklagte Reinhold Hanning wird von Justizwachtmeister Reinhard Kleesiek in das IHK-Gebäude gefahren. Rechts im Bild sein Verteidiger Andreas Scharmer.

Bildunterschrift: Im Interview mit dem LZ.de-Team: Nebenklägerin Angela Orosz Richt-Bein und ihr Anwalt Heinrich Rothmann.

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