30.09.2017 welt.de
Die Täter sind unter uns – immer noch
Von Per Hinrichs

Morden ist schwer. In Massen zu morden ist harte Arbeit. Kurt Werner hat es beschrieben, 1947, als Zeuge vor dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg. „Die Juden mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen mit Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen“, berichtete der frühere SS-Mann. „Gleichzeitig sind diesen Erschießungsgruppen von oben her laufend Juden zugeführt worden. Die nachfolgenden Juden mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet.“

So war das damals, am 29. und 30. September 1941 in Babyn Jar bei Kiew, als die Wehrmacht dort einfiel und in Zusammenarbeit mit der SS alle Juden der Stadt ermordete. Soll keiner sagen, dass Holocaust-Täter kaltherzige Menschen sind: „Mir ist heute noch in Erinnerung, in welches Entsetzen die Juden kamen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinunterblicken konnten. Viele Juden haben vor Schreck laut aufgeschrien“, berichtete Werner.

Abends gab es Schnaps für die Mörder

„Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Nervenkraft es kostete, da unten diese schmutzige Tätigkeit auszuführen. Es war grauenhaft …“ Das Blut stand knöcheltief in der Grube, aus geborstenen Schädeln quoll Gehirnmasse, erschossene Kinder und Säuglinge lagen wie Puppen herum. Abends gab es Schnaps für die Mörder.

Schießen, Laden, Pause. Schießen, Laden, Pause. So ging das 48 Stunden lang, bis nach den Feststellungen des Landgerichts Darmstadts, das 1968 sieben ehemalige Täter zu Haftstrafen verurteilte, 33.771 „jüdische Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien, vom jüngsten Säugling bis zum ältesten Greis“ ermordet waren.

ARD-Reporter stöbern zwei Verdächtige auf

Seit diesem Urteil hat die deutsche Justiz auch diese Täter der „Endlösung“ weitgehend in Ruhe gelassen. Nur noch eine Handvoll Männer, die bei einem der fürchterlichsten deutschen Massaker im Osten beteiligt waren, sind noch am Leben. Nun stöberten Reporter des ARD-Magazins „Kontraste“ zwei noch lebende Helfer auf. Sie besuchten die zwei ehemaligen Waffen-SS-Mitglieder Herbert Wahler und Kurt Gosdeck und befragten beide zu Babyn Jar. Beide Männer gehörten der SS-Einsatzgruppe 4a an. Deren Chef, Paul Blobel, wurde 1951 in Landsberg hingerichtet.

Denn während die gesund wirkenden alten Männer sich nicht erinnern wollten oder alles abstritten, sind die Ermittler den letzten Tätern sehr wohl auf der Spur. Bereits im September 2014 übergab der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, Efraim Zuroff, der Zentralen Stelle eine Liste mit NS-Verbrechern.

Auf diesem Dokument waren Mitglieder der sogenannten Einsatzgruppen verzeichnet, den mobilen Mordkommandos der SS, die im Hinterland der Front Jagd auf Juden machten. Diese Männer – häufig ganz normale Polizisten, die in Reservepolizeibataillonen dienten – ermordeten zwischen 1,3 und 1,4 Millionen Menschen, ähnlich viele, wie allein in Auschwitz in die Gaskammern geschickt worden sind. Auch dabei: die beiden Teilnehmer der Massenhinrichtung von Babyn Jar, Gosdeck und Wahler. Doch ihnen geschah nichts, bis heute.

Gegen Einsatzgruppen wurde nur sehr selten ermittelt

Der Leiter der Zentralen Stelle, Jens Rommel, hat mit den Fehlern und Versäumnissen der vergangenen Jahrzehnte nichts zu tun; er ist erst seit zwei Jahren auf seinem Posten. Rommel rechtfertigt sein wenig nachdrückliches Handeln im TV-Beitrag gegen Männer wie Wahler und Gosdeck mit der angeblich „dünnen Personaldecke“ in seiner Behörde, die eben keine umfassenden Ermittlungen im gebotenen Umfang erlauben würde. Dieses Argument hat er bislang aber noch nie angeführt, wenn es um die Kritik an der schleppenden Arbeit der Zentralen Stelle ging.

Thomas Walther hält es auch für weit hergeholt. Der ehemalige Mitarbeiter der Behörde hat selbst als Staatsanwalt den Demjanjuk-Prozess 2009 entscheidend auf den Weg gebracht und damit die neuen Ermittlungsverfahren erst möglich gemacht. John Demjanjuk war als SS-Helfer im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt und wurde wegen Beihilfe zum Massenmord vom Landgericht München verurteilt.

„Gegen Tatverdächtige aus den Einsatzgruppen wurde in der Behörde allerdings nur sehr selten ermittelt“, so Walther. Der Grund: In den Zeugenaussagen, die ja zahlreich vorlagen, behaupteten die früheren Angehörigen der Mordkommandos, nur im äußeren Bewachungsring eingesetzt gewesen zu sein. Sie hätten allenfalls etwas „gehört“, aber nichts „gesehen“ und seien nicht unmittelbar am Tötungsgeschehen beteiligt gewesen. „Das reichte, um nicht verfolgt zu werden“, so Walther, denn es galt vor Demjanjuk die juristische Doktrin der „unmittelbaren eigenen Beteiligung“, um jemanden jedenfalls wegen Beihilfe zum Mord anklagen zu können.

„Sofort die nötigen Stellen bewilligen“

Doch das änderte sich 2008/2009, als durch Walthers Hilfe die Rechtspraxis zurechtgerückt wurde. Danach war eben auch die funktionale Beteiligung am Massenmord als „Beihilfe zur Haupttat“ zu werten, so, wie jemand, der bei einem Bankraub Schmiere steht, auch wegen Beihilfe angeklagt werden kann, obwohl er keine Waffe in der Hand gehabt hat.

Doch trotz der neuen Linie blieb die Zentrale Stelle im Komplex der Ermittlungen gegen Angehörige der Einsatzgruppen weitgehend untätig.

Der frühere NS-Ermittler Walther, der heute als Nebenkläger Hinterbliebene und Überlebende vor Gericht vertritt, fordert, jetzt schnell zu ermitteln. „Wenn es stimmt, dass Personalmangel für die Verzögerungen verantwortlich ist, muss die Politik sofort die nötigen Stellen bewilligen“, so Walther. Andernfalls könnte der Eindruck entstehen, dass auf eine „biologische Lösung“ für diese Mordkommandos gewartet werde.

Die Wunde Babyn Jar ist nie verheilt. Der ehemalige israelische Ministerpräsident Jizchak Rabin besuchte die Todesschlucht 1995. In Babyn Jar hätten die Gewehrsalven die Träume kleiner Kinder vernichtet und die Herzen ihrer Eltern, „die sie mit ihren eigenen Körpern zu schützen versuchten“, sagte er. „Hier in diesem Höllenschlund endete die Geschichte einer großartigen jüdischen Welt.“

Und die letzten Täter und Helfer sind unter uns, immer noch.

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