23.01.2018 nwzonline.de
Späte Strafe für NS-Verbrecher
von Hans Begerow

Die Deutsche Justiz verhinderte über Jahrzehnte die Verfolgung der NS-Verbrecher, die am Völkermord an Juden sowie Sinti und Roma beteiligt waren.

Die Ablehnung des Gnadengesuchs des ehemaligen SS-Wachmanns Oskar Gröning hat einmal mehr die Frage aufgeworfen, warum es in Deutschland so lange gedauert hat, bis NS-Verbrecher vor Gericht gestellt wurden. Gröning hatte als SS-Mann im Vernichtungslager Auschwitz Dienst getan. Als Buchhalter trug er dazu bei, die Wertsachen der ermordeten Juden zu registrieren und für das Regime zu verwerten. Wegen Beihilfe zum Mord war er 2016 dafür zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden.

Warum hat es so lange gedauert, bis Gröning vor Gericht kam? Es hat viel mit der Kontinuität der deutschen Justiz zu tun, die vor und nach dem Ende des Nationalsozialismus in großen Teilen identisch war. Eine zu drakonische Entnazifizierung 1945 hätte den Justizapparat lahmgelegt. Im Oberlandesbezirk Bamberg beispielsweise waren bei Kriegsende von 309 Juristen 302 Parteimitglieder gewesen, in Bremen fanden die Amerikaner gerade einmal zwei unbelastete Juristen. Ehemalige Parteimitglieder der NSDAP prägten den Aufbau der bundesdeutschen Justiz, im Justizministerium wirkten Juristen, die in der Nazi-Zeit an Unrechtsurteilen beteiligt waren. Als Ministerialdirigent im Bundesjustizministerium war Eduard Dreher (1907-1996) tätig, in der Nazi-Zeit Erster Staatsanwalt beim Sondergericht Innsbruck, der sich hervorgetan hatte, weil er für Nichtigkeiten (Fahrraddiebstahl) die Todesstrafe forderte. Von ihm und seiner unrühmlichen Rolle bei der Verfolgung von NS-Verbrechern wird noch zu berichten sein. Im Justizministerium war auch Franz Maßfeller (1902-1966) untergekommen, Kommentator der Nürnberger Rassegesetze (Titel: „Blutschutz und Ehegesundheitsgesetz“). Die Liste ließe sich fortsetzen.

In den Westzonen Deutschlands war die Justiz zunächst zuständig für die Verbrechen an Deutschen, die Hauptkriegsverbrecher wurden in Nürnberg vor dem Internationalen Militärgerichtshof angeklagt und verurteilt. Es gab noch zwölf weitere Prozesse in Nürnberg, in denen einzelne Komplexe der Nazi-Herrschaft abgeurteilt wurden (zum Beispiel gegen am Krankenmord beteiligte Ärzte).

Danach glaubte man, dass es nun genug sei mit der juristischen Vergangenheitsbewältigung. Die bundesdeutsche Justiz nahm keine einzige Ermittlung wegen der großen NS-Mordaktionen auf. Der Bundestag beschloss 1954 ein erstes Amnestiegesetz. Und von den 13 zum Tode Verurteilten aus dem Einsatzgruppenprozess (1948, Internationaler Militärgerichtshof in Nürnberg) waren drei hingerichtet worden, die anderen Todesurteile wurden in Zuchthausstrafen umgewandelt. Die meisten waren 1953 wieder auf freiem Fuß, der letzte der Verurteilten war 1958 wieder frei.

Erst mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess flammte die Debatte um die Verjährung der Mordtaten auf. Ursprünglich galt Mord nach 20 Jahren als verjährt. Da als Ende der Nazi-Zeit der 8. Mai 1945 galt, wären alle Mordtaten aus der NS-Zeit 1965 verjährt gewesen. Im Bundestag gab es vor allem in CDU und FDP Bedenken, die Verjährung zu verlängern, weil das gegen den Rechtsgrundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ verstoße, die Strafbarkeit müsse gesetzlich bestimmt sein, bevor die Tat begangen wird. Es gab einen Kompromiss: Die Verjährung wurde zunächst um vier Jahre verlängert, man sagte: Die Verjährung für in der NS-Zeit begangene Straftaten beginnt am 31.12. 1949.

Vor der erneuten Debatte im Bundestag über eine Verlängerung der Verjährungsfrist sorgte eine Änderung des Ordnungswidrigkeitengesetzes für Ärger. Ein unscheinbarer Paragraf im „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ sorgte ab 1. Oktober 1968 dafür, dass die Rolle der Tatgehilfen neu bewertet wurde. Bis dahin konnte ein Helfer für eine Mordtat wie der Mörder bestraft werden. Nun war durch einen neuen Passus im Strafgesetzbuch die Strafe für den Tatgehilfen zwingend zu mildern, wenn ihm nicht niedere Motive nachgewiesen werden konnten. Damit waren die Mordtaten der Schreibtischtäter seit 1960 verjährt. Die Strategen und Planer des Massenmordes an Juden sowie Sinti und Roma gingen straffrei aus, die letzten Glieder der Befehlskette dagegen nicht (wenn ihnen persönliche Schuld nachgewiesen werden konnte, zum Beispiel Exzesstaten wie im Frankfurter Auschwitz-Prozess).

Für die Formulierungen im Ordnungswidrigkeitengesetz war Ministerialdirigent Eduard Dreher verantwortlich. Das Ministerium beteuerte, die Konsequenzen übersehen zu haben. Zu den Konsequenzen zählte 1969 die Einstellung der Strafverfahren gegen die ehemaligen Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamts, die den Judenmord geplant hatten. Und der Strafrechtler Professor Ingo Müller (zeitweilig an der Uni Oldenburg) wies darauf hin, dass diejenigen NS-Verbrecher an der Spitze des Reichssicherheitshauptamts, denen man eigenen Täterwillen hätte nachweisen können (zum Beispiel Werner Best, Leiter der Einsatzgruppen in Polen, oder der Berliner Gestapochef Otto Bovensiepen) mit Attesten ihre Verhandlungsunfähigkeit dokumentierten. Schließlich wurde vom Bundestag die Verjährung für Mord aufgehoben (1979).

Oskar Gröning wurde 2015 in Lüneburg angeklagt. Mittlerweile, oder erst recht spät, waren die Staatsanwälte und Richter zu der Erkenntnis gelangt, dass es auch eine funktionelle Beihilfe zum Mord gibt. Gröning war geständig und zeigte auch Reue. Das Urteil ist rechtskräftig – es ist zugleich das erste Urteil gegen einen NS-Verbrecher, der wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde, das rechtskräftig ist. NS-Verbrechen und ihre Aufarbeitung in der Bundesrepublik – das ist Vergangenheitsverdrängung und nicht -bewältigung.

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