06.08.2010 sz-magazin.sueddeutsche.de
Das Leben geht weiter (I.): Der lange Schatten der SchuldIm
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Im April erschien im SZ-Magazin eine Reportage über John Demjanjuk und Erich Steidtmann. Beide Männer sollen NS-Kriegsverbrechen begangen haben. Demjanjuk, der Ukrainer, wurde vor Gericht gebracht. Steidtmann, der Deutsche, nicht. Erst nach unserer Geschichte wurden wieder Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. Zu spät: Ende Juli starb er.Von Bastian Obermayer

Absurderweise beginnt die erste Folge dieser unregelmäßigen Rubrik – in der schon einmal erzählte Geschichten weiter erzählt werden sollen – mit einem Text, der völlig dem Rubrikentitel Das Leben geht weiter widerspricht: Das Leben des Erich Steidtmann geht nämlich nicht weiter, er starb vorvergangenen Sonntag bei Hannover. Steidtmann war einer der beiden Protagonisten einer längeren Geschichte, die Christoph und ich im April für das SZ-Magazin geschrieben hatten, sie hieß, etwas pathetisch vielleicht, Der lange Schatten der Schuld. Es war die Geschichte zweier Männer, die beide in die Gräuel der NS-Zeit in Polen verstrickt sein sollen. Der eine war John Demjanjuk, der ukrainische Hilfswillige, der in München vor Gericht steht, weil er im Vernichtungslager Sobibor an der Ermordung tausender Menschen beteiligt gewesen sein soll. Der andere war Erich Steidtmann, der als Polizei-Hauptmann möglicherweise an der Erschießung von mehr als 30.500 Juden im besetzten Polen teilgenommen hat. Dieser Verdacht lag nach Recherchen des Simon Wiesenthal Centers und des SZ-Magazins jedenfalls nahe, die Staatsanwaltschaft Hannover hatte im April deswegen ihre Ermittlungen wieder aufgenommen. Medien aus aller Welt berichteten darüber. Inzwischen wurde die Recherche an die Polizei übergeben, sie sichteten Akten und fahndeten nach Zeugen. Sie hatten sogar Steidtmanns in die USA ausgewanderte Ex-Frau ausfindig gemacht, ein Prozess schien möglich.

Nun wird diese Geschichte wohl nicht zu Ende erzählt werden können, mit Vorlage der Sterbeurkunde wurden die Ermittlungen wieder eingestellt – die Schuld von Toten interessiert die Justiz nicht. Stefan Klemp schon. Der Historiker des Simon Wiesenthal Centers wird noch weiter recherchieren und auch der Leipziger Verleger Joachim Jahns, den Steidtmann vor drei Jahren wegen einer Biographie verklagt hatte, die in seinem Verlag erschienen war (mehr dazu ungefähr hier in unserer Geschichte), ist Steidtmann noch immer auf den Spuren – Jahns geht es vor allem um Steidtmanns Zeit in Warschau und seine Rolle im Warschauer Ghetto.

Logischerweise wäre ein Prozess samt Zeugenaussagen erfolgversprechender gewesen. Gegner von Nazi-Kriegsverbrecher-Prozessen, die auch damit argumentieren, dass der Aufwand sich schon allein deswegen nicht lohnt, weil die Hauptperson möglicherweise zu Prozessbeginn nicht mehr am Leben ist, werden sich bestätigt fühlen. Verfechter der Anklagen sind frustriert. In der New York Times, die über Steidtmanns Tod und unsere Recherchen berichtete, sagt Ephraim Zuroff, Chef des Simon Wiesenthal Centers, den bemerkenswerten Satz: “Ich bin wohl der einzige Jude in der ganzen Welt, der für die Gesundheit von Nazi-Kriegsverbrechern betet.”

Immerhin starb Erich Steidtmann nun doch nicht ganz so unbehelligt, und auch nicht unbemerkt: Er war sogar der Washington Post einen Nachruf wert.

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